Ein Lehr- und Studienbuch der interkulturellen Pädagogik

Rezension von Kerstin Schenkel

Renate Nestvogel:

Aufwachsen in verschiedenen Kulturen.

Weibliche Sozialisation und Geschlechterverhältnisse in Kindheit und Jugend.

Weinheim, Basel: Beltz 2002.

616 Seiten, ISBN 3–407–32010–8, € 39,00

Abstract: Renate Nestvogel gibt anhand von Auszügen ausgewählter biographischer Romane und Erzählungen einen Einblick in Aspekte weibliche verschiedener Kulturen und Gesellschaften. Den Texten vorangestellt ist u. a. ein Forschungsüberblick zu Sozialisationskonzepten, zur weiblichen Sozialisation und den Geschlechterverhältnissen sowie zur Kindheit und Jugend. Die Texte werden thematisch nach unterschiedlichen Themen wie Lebensräumen, Kinderarbeit, Phantasie, Geschlechtersozialisation, Körpersozialisation differenziert und jeweils von theoretischen Einführungen begleitet. Die Publikation stellt den Abschlussband der Reihe „Einführung in die pädagogische Frauenforschung“ dar, die als Basis für erziehungswissenschaftliche Lehre dienen soll.

Interkulturelle Sensibilisierung als Zielbestimmung

Die Autorin hat sich ein hohes und wichtiges Ziel gesteckt: ausgehend von immer noch vorhandenen versteckten rassistischen und eurozentristischen Diskursen in Medien, wissenschaftlichen Studien, Schul- und Sachbüchern, wirbt sie für einen Blick- und Perspektivwechsel. Dabei wird die interkulturelle Thematik in Verknüpfung mit der Frauen- und Genderthematik gedacht. Im Zentrum steht für die Autorin die Befähigung der potentiell mit pädagogischen Aufgaben betrauten Frauen (warum nur Frauen?) im deutschsprachigen Raum, sich eine differenzierte, multiperspektivische Sichtweise anzueignen.

Die Bezugspunkte bilden dabei sowohl die oft mit Stereotypen markierten Fremdbilder als auch die damit einher gehenden Selbstbilder, die von Hierarchisierungen gekennzeichnet sind. Mit der Auswahl von Ausschnitten biographischer Erzählungen und Romane ist dabei eine Entscheidung für Texte getroffen worden, die durch den Blick auf das Authentische, das individuell Erlebte eine größere emotionale Nähe zu den Lebenssituationen von Frauen vielfältiger Kulturen und damit Verständnisbereitschaft herstellen können. Damit wird der Tatsache Rechnung getragen, dass emphatische Wahrnehmungsfähigkeit ein gewisses Gegengewicht zu Gruppendynamiken schaffen kann, die mit für die Herausbildung von Stereotypen verantwortlich sind.

Insbesondere Frauen aus islamischen Ländern und aus der sog. Dritten Welt, so schreibt Nestvogel, „erfahren Zuschreibungen von Unterentwicklung, Unemanzipiertheit, Passivität und patriarchaler Unterwerfung“ die „mit Selbstbildern von eigener Fortschrittlichkeit, Entwicklung, Emanzipiertheit, Aktivität und Widerständigkeit gegen jegliche Form weiblicher Unterdrückung einher geht“. Die von Nestvogel ausgewählten Texte dagegen sollen dazu beitragen, über das Kennen lernen der Lebenswelten von Frauen verschiedener Kulturen aus deren subjektiver Sicht und deren eigener Interpretation die differenzierte Auseinandersetzung mit den jeweils eigenen Kulturen (!) zu fördern. Gleichzeitig wird zu einem reflektierten Umgang mit Theorien bzw. wissenschaftlicher Forschung zu weiblicher Sozialisation aufgefordert.

Der sozialisationstheoretische Background

Den Beginn der theoretischen Abhandlungen bildet die Darstellung unterschiedlicher Basiskonzepte zur Sozialisation. Systemtheoretisch-ökologische und handlungstheoretische sind hier den sozialdeterministischen sowie biologistischen Ansätzen gegenübergestellt. Als Orientierungsrahmen gelten dabei erstere, indem sie den wechselseitigen Anpassungsprozess zwischen Person und Umwelt als Grunddeterminante menschlicher Entwicklung herausstellen. Sozialdeterministische und biologistische Ansätze werden hinsichtlich ihrer einseitigen Schwerpunktverlagerung auf gesellschaftliche oder biologische Aspekte der Persönlichkeitsentwicklung kritisiert. Sozialdeterminismus wird dabei in kritischen Bezug zu feministischen Theorien der 80er Jahre (z.B. von Werlhof 1983), aber auch zur aktuellen migrationssoziologischen Forschung gestellt, Biologismen prägen gesellschaftliche Diskurse ebenso wie feministische, in denen Frauen als höherwertig gelten (z. B. Irigaray 1987).

Das Sozialisationsverständnis reflektiert die Autorin auch in kultureller Perspektive. Zum einen wird Kultur als ein dynamisches, historisches, an alltägliche Lebenswelten gebundenes und von Gleichwertigkeit ausgehendes sowie räumlich offenes und konstruiertes System kollektiver Deutungsmuster und Regeln beschrieben. Diesem Kulturbegriff zugrunde liegt auch hier ein Sozialisationsverständnis, das das „Individuum als aktiv handelnden und seinerseits Kultur verändernden Menschen begreift“. Eine konstruktivistische Sichtweise betont dagegen, so Nestvogel, „dass Kultur in aktiver Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Wandlungsprozessen, durch Selbst- und Fremdzuschreibungen über Interaktionen erworben und damit reproduziert und produziert wird.“ Kritisch betrachtet werden unhistorisch-statische Festschreibungen von Kultur, hierarchisierende Kulturbegriffe wie die Kulturstufentheorie der Aufklärung oder auch die Konstruktion abgeschlossener Kulturkreise, die interkulturelle und intrakulturelle Vielfalt, Überschneidung und Ausdifferenzierung im Zeichen weltweiter Wanderungsbewegungen negiert.

Mit der Darlegung eines fünfstufigen Strukturmodells der Sozialisationsbedingungen, das aus Weltgesellschaft, Gesamtgesellschaft, Institutionen, Interaktionen und Subjekt besteht, versucht Nestvogel in Anlehnung an das Stufenmodell von Geulen und Hurrelmann sowie die Weltsystemtheorie von Wallerstein, ein komplexes Netzwerk bzw. die Verflechtung unterschiedlichster Gesellschaftsebenen und -strukturen zu beschreiben, die einen interdependenten sozialisationsrelevanten Zusammenhang bilden. Besonders positiv in diesem Zusammenhang fällt auf, dass Nestvogel dem eigenen Anspruch auf reflektierten Umgang mit Theorien in dem Sinne gerecht wird, als das sie immer wieder die ethnozentische Eingebundenheit wissenschaftlicher Forschung thematisiert und die Berücksichtigung von Selbst- und Fremdbildern von Dominanzkulturen wie auch Persönlichkeitskonzepte anderer Kulturen einfordert.

Zu weiblicher Sozialisation und der Entwicklung der Geschlechterverhältnisse

Ein weiteres grundlegendes Kapitel ist der Theorie der weiblichen Sozialisation und den Geschlechterverhältnissen gewidmet. Die Autorin zeichnet die Geschichte der theoretischen Auseinandersetzungen nach. Bei den Ausführungen bleiben unverständlicher Weise Postmoderne feministische Ansätze unbeachtet: Judith Butler bleibt ebenso unerwähnt, wie auch die in der interkulturellen Debatte unverzichtbare Theoretikerin Seyla Benhabib. Interessanterweise sind jedoch wichtige Aspekte, wie z. B. die interaktive Konstruktion geschlechtsspezifischen Verhaltens in der eigenen Positionierung Nestvogels eingeflossen.

Diesem Aspekt kommt eine insofern herausragende Bedeutung zu, als bipolaren Konstruktionen idealtypischer Sozialisationsprozesse und -charaktere von Männern und Frauen mehrfach eine deutliche Absage erteilt wird. „Es geht darum, die Vielfalt weiblicher Sozialisationsprozesse in der ‚Einen Welt‘ aufzuzeigen und nicht Idealtypisierungen in einzelnen Kulturen und Gesellschaften zu suchen, weil Letztere weder interkulturellen Überschneidungen noch intrakulturellen oder individuellen Differenzierungen gerecht werden“. Die Frage ist nur, ob Nestvogel dem eigenen Anspruch gerecht wird, wenn sie – meines Erachtens durchaus legitim – nur weiblichen Sozialisationsverläufen ihre Aufmerksamkeit zubilligt und männlichen oder weiteren Geschlechtsidentitäten nicht. Ist solch eine Vorgehensweise nicht ihrerseits wieder eine Reproduktion der alten Dualismen?

Unter Bezugnahme auf Foucault werden in einem weiteren Teil die komplexen Machtverhältnisse beschrieben, in die das menschliche Subjekt eingebunden ist in eine simple dualistische Aufteilung in Beherrscher und Beherrschte. Unter der Überschrift „Texte als Diskurse“ legitimiert die Autorin ihre Herangehensweise entsprechend, Texte ohne ergänzende Information zu ihren jeweiligen gesellschaftlichen-nationalen Kontexten zu präsentieren. In dem Sinne, in dem die dokumentierten Texte einen Teil der Frauendiskurse darstellen, die ihrerseits mit Diskursen anderer gesellschaftlicher Ebenen verknüpft sind, stellen sie eine Annäherung an die gesellschaftliche Realität dar, die sozialisationsrelevant auf Frauen einwirkt, die ihrerseits gestaltungsmächtig und diskursprägend sind.

Sozialisation in Kindheit und Jugend

Den theoretischen Einführungen folgt die überaus umfangreiche Dokumentation der Ausschnitte der überwiegend von Frauen geschriebenen Erzählungen, Romane, Biographien, Autobiographien und biographischen Interviews. Nestvogel hat weit über hundert Texte in die Betrachtung, darunter solche Texte einbezogen wie die Gesammelten Erzählungen von Christa Wolf, Wir Kinder vom Bahnhof Zoo von Christiane F. u.a., Wenn man mir erlaubt zu sprechen von Moema Viezzer bzw. Audre Lords Zami oder auch Wüstenblume von Waris Dieri. Die Texte sind nach einzelnen Sozialisationsaspekten geordnet, wobei die Lebensphasen der Kindheit und der Jugend getrennt aufgeführt sind. Jedem dieser Lebensphasen-Kapitel wird zunächst eine theoriegeleitete Einführung vorangestellt, auf gleiche Weise wird in Kurzform auch mit den einzelnen Sozialisationsaspekten verfahren. Die Autorin weist selbst darauf hin, dass theoretische Erklärungsansätze nur exemplarisch und nicht wissenschaftlich-systematisch präsentiert werden und die in den Texten angesprochenen Aspekte nur kurz kommentiert wurden. So gehen von den Ausführungen eher wichtige Impulse für eine weiterführende Auseinandersetzung mit den in den Texten angesprochenen Thematiken aus. Es wurde auch bei der Auswahl der Texte darauf geachtet, dass diese im deutschsprachigen Raum der Leserschaft zur Verfügung stehen.

Schlussbetrachtung

Renate Nestvogel hat mit ihrer Publikation einen ungewöhnlichen Weg beschritten. Eine fast fünfhundert Seiten einnehmende Dokumentation von biographischen Texten mit einer nur circa 50 Seiten fassenden theoretischen Einführung zu verknüpfen will wohlbegründet sein. Der Autorin ist das zweifellos gelungen. Wichtig dabei zu betonen ist, dass (1) dieses Buch ein Studienbuch für die erziehungswissenschaftliche Lehre darstellt und (2) es als Basis für eine weiterführende Auseinandersetzung mit der interkulturellen Thematik in Verknüpfung mit Aspekten weiblichen Sozialisation zu begreifen ist.

Die theoretischen Einführungen geben einen kurzen Überblick, es wäre vielleicht sinnvoll gewesen, weitergehende Literaturempfehlungen auszusprechen. Die Einführungen in das Thema der weiblichen Sozialisation und zum Geschlechterverhältnis fallen etwas verkürzt aus; für eine wenn auch nur ausschnittweise Darstellung der feministischen Debatte fällt die fehlt die Erwähnung einiger wichtiger Vertreterinnen des feministischen Diskurses ins Auge.

Mit der Lektüre dieses Buches kann die Leser/-innenschaft mit Sicherheit einen Schritt in die von der Autorin anvisierte Zielrichtung machen, nämlich einen sensibleren, differenzierteren und reflexiveren Umgang mit Selbst- und Fremdbildern hinsichtlich weiblicher Sozialisationen in verschiedenen Kulturen zu entwickeln. Darüber hinaus inspirieren die Texte in der Tat zur weiteren Lektüre.

URN urn:nbn:de:0114-qn042068

Dipl. Geogr. Kerstin Schenkel

Freie Universität Berlin / Projekt Frauen- und Genderforschung in den Geowissenschaften

E-Mail: schenkel@geog.fu-berlin.de

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