Nationalsozialistische Konzentrations- und Vernichtungslager

Rezension von Max Plassmann

Karin Orth:

Das System der nationalsozialistischen Konzentrationslager.

Eine politische Organisationsanalyse.

Hamburg: Hamburger Edition des Instituts für Sozialforschung 1999.

369 Seiten, ISBN 3–930908–52–2, DM 58/ SFR 55/ ÖS 423

Abstract: Das Buch stellt Organisationsformen, Zuständigkeiten und Politik hinter dem nationalsozialistischen Konzentrationslagersystem dar.

Karin Orth hat sich der ebenso mühe- wie verdienstvollen Aufgabe unterzogen, eine Überblicksdarstellung über das nationalsozialistische Konzentrationslagersystem vorzulegen, die die bisherige verstreute Literatur zusammenfaßt und durch eigene Archivstudien ergänzt. Sie schließt damit in Verbindung mit ihrer Arbeit über das Personal der Lager-SS eine schon seit langem klaffende Forschungslücke. Sie nimmt alle die Lager in den Blick, die von der „Inspektion der Konzentrationslager“ der SS geführt und verwaltet wurden. Die Studie erfaßt also nicht alle Lagertypen des NS-Regimes. Der Vorteil dieser Selbstbeschränkung liegt jedoch in der vergleichsweise großen Homogenität des Untersuchungsgegenstandes.

Orth nimmt dabei die Perspektive von oben ein. Es geht ihr um die Politik der SS-Führung, um Strukturen des Lagersystems und die dahinter stehende Organisation. Der Blick von unten, die Häftlingsperspektive oder die mikrogeschichtliche Analyse nur eines Lagers, wird dabei bewußt weitgehend ausgeblendet. Dies jedoch aus gutem Grund: Solange die großen Entwicklungslinien und das System, in das das einzelne Lager eingebettet ist, im Dunkeln liegen, läuft jede Detailstudie Gefahr, in eben diesem Dunkeln unnötigen Fehlschlüssen zu unterliegen und die eigenen Ergebnisse in unzulässiger Weise zu verallgemeinern. Hier liegt schon ein großer Verdienst Orths: Sie ermöglicht kommenden Forschungen, sich auf wesentlich festerem Grund zu bewegen.

Da die SS große Teile ihrer Aktenbestände 1945 vernichtet hat, unterliegt die Quellenbasis gewissen Beschränkungen, was amtliche Provenienzen angeht. Orth weicht ergänzend auf Erinnerungen von überlebenden Häftlingen und auf die Unterlagen der Prozesse der Nachkriegszeit zurück. Die Gefahren beider Quellengruppen werden im zu besprechenden Buch durch eine sorgfältige Quellenkritik umschifft.

Die Entwicklung des Lagersystems

Die Darstellung geht von den frühen „wilden“ KZ des Jahres 1933 aus, die nach der Machtergreifung an vielen Orten ohne zentrale Führung entstanden. Eine neue Phase setzte mit der Übernahme des Lagers Dachau durch die SS am 11. April 1933 ein. Hier entstand nun unter der Leitung von Theodor Eicke ein Modell-Lager, an dem sich die weiteren orientieren sollten. 1934 entstand dann die „Inspektion der Konzentrationslager“ (IKL) unter Eicke. Die bestehenden KZ wurden nun entweder aufgelöst oder nach Dachauer, seit 1936 Sachsenhausener, Muster einheitlich umstrukturiert. Die Wachen wurden militärisch als Totenkopfverbände organisiert. Mit Beginn des 2. Weltkrieges wurden die KZ auch zu einem Instrument der Unterdrückung und rassistisch motivierten Vernichtung der unterworfenen Völker, so daß bei rapide steigender Gesamtzahl nun die Masse der Häftlinge osteuropäischer Herkunft war.

Ab 1942 differenzierte sich das Lagersystem in zwei Bereiche: Auschwitz-Birkenau und Majdanek dienten als Vernichtungslager der Massentötung v.a. der Juden im nationalsozialistischen Machtbereich, während die übrigen Lager in Zusammenarbeit mit der Industrie ihre Häftlinge als Arbeitskräfte in der Rüstungswirtschaft und bei großen Bauvorhaben ausbeuteten. Hierzu entstand eine große Zahl von Außenstellen und Nebenlagern. Die Endphase des Krieges schließlich war geprägt von einem Massensterben in Sterbelagern und von Todesmärschen zur Räumung von KZ, an die die Front herangerückt war. Heinrich Himmler betrachtete das KZ-System nicht allein unter ideologischen Aspekten und als Instrument zur Aufrechterhaltung der nationalsozialistischen Herrschaft, sondern er nutzte es stets auch dazu, seine Hausmacht gegen konkurrierende Ansprüche innerhalb des Systems auszubauen und zu festigen, etwa durch den gescheiterten Versuch, u.a. durch die Arbeitskraft der Häftlinge eine SS-eigene Rüstungsindustrie aufzubauen.

Fazit

Die Arbeit wird dem Anspruch, Organisationen, Verwaltungsstrukturen und die Grundsätze der Lager-Politik Himmlers und der SS darzustellen, in vollem Umfang gerecht. Die oft seitenlangen Beschreibung von Organisationsstrukturen, Planungen und Zuständigkeiten mögen bisweilen trocken und spröde zu lesen sein. Sie stellen jedoch das Material zur Verfügung, auf das in der Zukunft zielgerichtet zugegriffen werden kann. Es handelt sich um Grundlagenforschung, deren Wert gerade in der großen Genauigkeit im Detail liegt. Der Versuch einer Ermittlung der Anzahl der KZ-Opfer, soweit das bislang möglich ist, rundet das gelungene Werk, das überdies zu einem für wissenschaftliche Literatur günstigen Preis zu haben ist, ab. Das Literaturverzeichnis erstreckt sich über mehr als 30 Seiten. Es zeugt von der großen Arbeitsleistung der Verfasserin und wird für zukünftige Forschung als Einstiegsbibliographie von großem Nutzen sein. Auf immerhin sechs Seiten sind die benutzten Archivalien und die Verfahrensakten der Staatsanwaltschaften verzeichnet.

Daß bei einem so großen Forschungsumfang in Nebenaspekten nicht immer die aktuellste Literatur berücksichtigt wurde (beispielsweise stützen sich Aussagen zur Kriegswirtschaft einzig auf die überholte Arbeit von Milward aus dem Jahr 1966), kann durchaus verschmerzt werden. Kritisch anzumerken ist die mangelnde Ausstattung des Bandes. Einer Organisationsgeschichte hätten Organigramme, Geschäftsverteilungspläne und schematische Übersichten über die beschriebenen Strukturen gutgetan, die dem Leser eine schnellere Einordnung ermöglicht hätten. Karten sucht man ebenfalls vergeblich. Auch beim Register wurde gespart. Es handelt sich um ein reines Personenregister, das dem Leser wenig weiterhilft, wenn er nach bestimmten Dienststellen, Industrieunternehmen oder Lagern sucht.

URN urn:nbn:de:0114-qn012041

Dr. Max Plassmann

Archivschule Marburg

E-Mail: m_plassmann@nikocity.de

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