Wie rassistisch sind Anti-Rassist/-innen?

Rezension von Ilka Borchardt

Anja Weiß:

Rassismus wider Willen.

Ein anderer Blick auf eine Struktur sozialer Ungleichheit.

Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 2001.

377 Seiten, ISBN 3–531–13621–6, € 32,90

Abstract: Anja Weiß beschäftigt sich mit einem all zu oft emotional behandelten Thema: dem Rassismus anti-rassistisch Engagierter. Sie versucht die häufig widersprüchlichen Auseinandersetzungen und Emotionen um Rassismus und Rassismus-Vorwürfe versucht Weiß kreativ im Forschungsprozess zu verwenden.

Grundlagen der Forschung

Rassismus wider Willen leistet einen wertvollen Beitrag zur Analyse rassistischer Strukturen und Reproduktionen von Rassismus in Gruppen, welche per definitionem nicht-rassistisch sein sollten. Ihre umfangreiche theoretische Arbeit vervollständigt die Autorin durch empirisches Material über verschiedene anti-rassistisch Engagierte sowie über Kontrastgruppen, die nicht explizit anti-rassistisch engagiert sind.

Da es in dieser Arbeit um ein vielfach diskutiertes und oft widersprüchlich behandeltes, teilweise schwer greifbares Thema geht, ist es notwendig, „divergierende Perspektiven“ darauf einzunehmen. In der Studie wird das vorliegende Material von unterschiedlichen Standpunkten aus (gruppenintern, rassistisch dominant und rassistisch dominiert) beobachtet. (S. 85) Die im Zentrum des Untersuchungsinteresses stehenden (unbewussten) diskursiven Reproduktionen rassistischer Stereotype, Strukturen und Vorurteile erforschte Weiß mit verschiedenen Methoden der qualitativen Sozialforschung und deren Triangulation. Dazu gehörten angeleitete Rollenspiele und Reflexionstage in den einzelnen Gruppen, die teilweise durch mehrere Beobachter/-innen dokumentiert wurden. Ergänzt wurden sie durch eine Analyse der Gruppengespräche und den Vergleich von anti-rassistischen und Kontrastgruppen. Die Kombination und gegenseitige Ergänzung von Methoden und Forschungsperspektiven ermöglicht der Autorin das Verstehen einzelner Handlungen und Aussagen innerhalb gruppeninterner habitueller Bezugspunkte und das entsprechende Einordnen in gruppenexterne Sinnbezüge und größere symbolische Kämpfe.

In einem ausführlichen und dennoch kompakten theoretischen Teil entwickelt Weiß ihr eigenes Verständnis von Rassismus. Sie untersucht Theorien sozialer Identität und sozialer Kategorisierungen, kritisiert psychologische und diskursanalytische Herangehensweisen mit dem erklärten Ziel, „die Frage nach ‚normativ‘ tragfähigen, politisch relevanten Definitionen so weit als möglich [zu vermeiden] – auch wenn Modelle des Rassismus deren Bedeutung nicht ignorieren können. Außerdem erscheint die Suche nach einer ‚trennscharfen‘ Definition aus inhaltlichen Gründen aussichtslos. Es wird also darum gehen, in Auseinandersetzung mit den vorhandenen Ansätzen einen ‚analytischen‘ Blick auf das Phänomen vorzuschlagen, mit dessen Hilfe heterogene soziale Phänomene präzise auf ein Modell des Rassismus bezogen werden können.“ (S. 21)

Vorgehensweise

Auf diese Weise gelangt Weiß zu einem flexiblen und alltagsorientierten Verständnis von Rassismus und dessen Reproduktion. Hier fließen die Wirkungen von sozialem, ökonomischem, symbolischem und kulturellem Kapital und spezifisch situative Aushandlungen und Festigungen zusammen. „In Anlehnung an die Bourdieuschen Theorien der symbolischen Gewalt und der objektiven Strukturierung des sozialen Raums schlage ich ein Modell des Rassismus vor, in dem dieser als Struktur sozialer Ungleichheit verstanden wird, die einer symbolischen Reproduktionslogik folgt. „ (S. 16) Es geht also um die Bedeutung alltäglicher Diskurse und Praktiken. Auf der Basis dieser Hypothese verfolgt die Autorin die Einbettung von Rassismus in verschiedene Kontexte. Dadurch gelingt es ihr auch in der späteren Auswertung des empirischen Materials, Aussagen weder zu bewerten noch zu moralisieren, zu beschönigen oder zu rechtfertigen. Genau dies sind aber die häufigsten Probleme bei der Beschäftigung mit Rassismus, welche sehr oft nicht nur in Aktivist/-innen, sondern auch in akademischen Kreisen konstruktive Auseinandersetzung verhindern und statt dessen zu emotionsgeladenen gegenseitigen Vorwürfen oder Rechtfertigungen führen.

Eine genaue Trennung von Theorie und Empirie ist in Weiß’ Arbeit nicht möglich, da sie auch in der Analyse konsequent immer wieder auf vorher diskutierte Ansätze zurückgreift. Das schafft zwar einen unauflösbaren roten Faden, erschwert aber gerade am Anfang den Einstieg in das Thema, da hier die Grundlagen für die Arbeit und das weitere Verständnis gelegt werden. Wer sich aber erst einmal durch die beiden ersten Kapitel „Was ist Rassismus? “ und „Die interaktive Reproduktion von Rassismus“ gekämpft hat, wird im Folgenden mit bemerkenswert gründlichem und interessantem, aber auch provozierendem Material konfrontiert.

Anhand ihrer Erhebungen untersucht Weiß im 3. Kapitel antirassistische symbolische Kämpfe hinsichtlich ihrer kurzfristigen Effekte und der in Konfliktsituationen benutzten handlungspraktischen, interaktiven Strategien. Angesichts der in antirassistischen Gruppen beobachteten antirassistischen Selbstkontrolle stellt sie im Kapitel 4 die Frage nach der Entstehung nichtintendierter rassistischer Effekte. Nach der Untersuchung der eher gruppeninternen Beobachtungen widmet sie sich im 5. Kapitel der „Reproduktion von Rassismus im Kontext machtasymmetrischer interkultureller Konflikte“. Dies betrifft zwar auch gruppeninterne Verhältnisse, kann aber leichter auf gesellschaftliche Zusammenhänge erweitert werden und stellt damit die gesamte Forschung in einen Kontext außerhalb der untersuchten Aktionsgruppen. Im letzten Kapitel fügt sie „(Anti-) Rassismus“ wieder in den „Kontext habitueller Übereinstimmung und Distinktion“ ein und schließt damit den Kreis zur anfänglichen Diskussion bisheriger Erklärungsansätze. Mit der Verbindung zu den im Forschungsprozess beobachteten Handlungsstrategien schafft sie einen Ausblick auf mögliche Lösungsansätze.

Konsequenz

Als Besonderheit fiel mir Weiß’ konsequenter Gebrauch der Begriffe „rassistisch Dominante“ und „rassistisch Dominierte“ auf. Die Autorin vermeidet auf diese Art Begrifflichkeiten, die z. B. auch in vielen Schriften von Afrodeutschen zu finden sind, wie „Schwarze“ und „Weiße“. Darüber hinaus verwendet sie beispielsweise „Migrant/-innen“ und „Deutsche“ auch nur im Zusammenhang mit Zitaten aus Diskussionen. Ihrem eigenen Verständnis von Rassismus folgend, ist sie gezwungen, die rassistisch legitimierten hierarchischen Positionen als Produkte sozialer Aktionen und Interaktion zu verstehen und zu benennen. Damit umgeht sie die impliziten Essentialisierungen, die Begriffen wie „Schwarze“ und „Weiße“ zugrunde liegen, aber auch die Kulturalisierungen in Selbst- und Fremdbeschreibungen wie „Afrodeutsche“, „Ausländer“ oder „Deutsche“. Diese für mich neuen – und zugegebenermaßen gewöhnungsbedürftigen – Benennungen spiegeln Weiß’ ursprüngliche Kritik an Erklärungsversuchen wieder, welche nur allzu leicht biologistische essentialisierende, kulturalisierende und ethnisierende Legitimationen reproduzieren und damit Rassismus schwer von Sexismus, Nationalismus und Ethnisierungsstrategien unterscheiden lassen. Dies soll hier nur als ein kleiner Hinweis auf die außergewöhnliche Gründlichkeit der Argumentation und die Konsequenz auch im Wortgebrauch der Autorin dienen.

Kritik

Das Hauptaugenmerk von Weiß lag während der Forschung nicht auf Frauen- und Geschlechterstudien. Es finden sich dennoch einige wenige Ansätze einer geschlechtsspezifischen Perspektive. Allerdings tauchen diese vor allem in der Analyse auf, wenn rassistisch dominante Frauen Sexismus-Erfahrungen anführen und diese rassistischen und sexistischen Erlebnisse rassistisch dominierter Frauen entgegen- und gleichzusetzen versuchen. Auch wenn solche Vergleichsversuche durchaus von Verständnis motiviert sein können, stellen sie doch ebenfalls eine Reproduktion von Rassismus dar. Aus diesem Grund dienen die entsprechenden empirischen Beispiele Weiß als Grundlage für die Analyse, aber nicht unter einem geschlechtsspezifischen Blickwinkel. Allerdings würde ich diese Ansätze eher als Ausgangspunkt für weitere Forschungen, weniger als Versuch der Autorin, auch den Ansprüchen von Frauen- und Geschlechterforschung gerecht zu werden, verstehen.

Leider können an dieser Stelle nur sehr wenige Aspekte dieser Arbeit angedeutet und nicht einmal annähernd ausreichend beleuchtet werden. Es bleibt zu hoffen, dass das Buch Rassismus wider Willen in wissenschaftlichen und politischen Kreisen nicht nur diskutiert wird, sondern dass die Erkenntnisse auch schöpferische und nutzbringende neue Denkprozesse in Bewegung setzen.

URN urn:nbn:de:0114-qn041190

Ilka Borchardt

FU Berlin; Arbeitsschwerpunkte: Gender Studies, Russland

E-Mail: semykina_ilka_1999@yahoo.de

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