Ödipus und Popkultur

Rezension von Andrea Schüler

Marjorie Garber:

Die Vielfalt des Begehrens.

Bisexualität von Sappho bis Madonna.

Frankfurt am Main: Fischer 2000.

720 Seiten, ISBN 3–596–14817–0, € 16,90

Abstract: Marjorie Garber inspiziert in ihrer ebenso eloquenten wie materialreichen Abhandlung die abendländische Geistes- und Kulturgeschichte von der Antike bis zur Postmoderne und kommt zu dem Ergebnis, dass Bisexualität allgegenwärtig und zugleich kulturell und politisch unsichtbar ist. Die zahlreichen Beispiele bisexuellen Begehrens, die sich sowohl unter literarischen Figuren als auch bei bekannten historischen Personen finden lassen, seien von ihren Interpret/-innen stets der Dichotomie Homo- oder Heterosexualität unterworfen worden. Erfahrungen, die dieser binären Opposition widersprechen, würden als „Phase“, „Experiment“, „Verirrung“, „Selbstbetrug“ usw. abgewertet. Im Sinne postmoderner Identitätskritik plädiert die Autorin für eine Befreiung der Erotik von solchen Normierungen und preist das subversive und transgressive Potential menschlicher Sexualität jenseits der Kategorien homo- hetero- oder bisexuell.

Bisexualität als Subversion der Geschlechterordnung

Als Vice versa: Bisexuality And The Eroticism of Everyday Life 1995 in den USA erschien, erregte es innerhalb wie außerhalb der akademischen Welt einiges Aufsehen. Marjorie Garber, Harvard-Professorin für Literatur und Cultural Studies, versteht Bisexualität nicht als eine sexuelle Identität neben oder zwischen Homo- und Heterosexualität, sondern als Subversion der symbolischen Geschlechterordnung, die das Konzept einer sexuellen Identität überhaupt in Frage stellt. Für Garber ist Bisexualität eine Überschreitung der kategorialen Grenzen (cross over) von Homo- vs. Heterosexualität und weiblich vs. männlich. Bisexuelle weigerten sich, sich auf eine Art zu lieben festlegen zu lassen oder ihre Liebesobjekte nach der Kategorie Geschlecht auszusuchen. „Individuen sind ständig damit beschäftigt, ihre Sexualität zu inszenieren. Sexuelles Verhalten bezeichnet, wie die vieldiskutierten Ausdrücke ‚Männlichkeit‘ und ‚Weiblichkeit‘, keine bestimmte Identität, sondern Positionen der Identifikation, Positionen, die ihrem Wesen nach fließend und nicht festgelegt sind“. (S. 218) Bisexualität sei der Ort einer Geschichte, nicht der eines Körpers, Begehren und Phantasie bestimme die erotische Szene, nicht Identität. Die Phantasie sei eine Geschichte, in der der Phantasierende nicht auf eine bestimmte Rolle festgelegt sei, argumentiert Garber unter Berufung auf die freudianische Psychoanalyse. (Vgl. S. 37)

Die Autorin demonstriert auf 730 Seiten ihre Belesenheit sowohl in „highbrow“- wie in „lowbrow“-Kultur. Freuds und Jungs Theorien über Bisexualität werden ebenso ausgiebig diskutiert wie die griechische Mythologie, feministische und queere Politik, Literatur- und Filmgeschichte, politische Magazine und Klatschblätter. Sie betrachtet die politischen Debatten über Bisexuelle seit den 70er Jahren, kritisiert die Theorien biologistischer Sexualforschung, zitiert aus den Selbstzeugnissen prominenter Internatszöglinge, um ihre These von den Bildungsinstitutionen als hocherotische und bisexuelle Veranstaltungen zu illustrieren und räsoniert über die Vorteile von Zweckehen und „offenen Ehen“ gegenüber der Illusion dauerhafter monogamer romantischer Liebe. Das Ergebnis ist eine hybride Mischung aus theoretisierendem Essay, feuilletonistischem Geplauder und lustvollem Klatsch, wer mit wem, wann wie und warum. Überall findet Garber „polysexuelles“ statt „monosexuelles“ Begehren: Bei Film- und Romanfiguren, unter Popstars, Künstler/-innen, Politiker/-innen und Wissenschaftler/-innen.

Die akademischen Gay and Lesbian Studies hätten in ihrem Bestreben nach gesellschaftlicher Anerkennung etwas voreilig viele historische Persönlichkeiten als homosexuell reklamiert, die tatsächlich bisexuell lebten: Die homophobe Kritik versuche oft das Umgekehrte: die Objekte ihrer Analyse als „eigentlich“ heterosexuell zu normalisieren.

Überwältigende Lektüre

Offensichtlich hat Garber viel gelesen und exzerpiert und nun schüttet sie begeistert ihren beeindruckend umfangreichen Zettelkasten über die Leser/-innen aus. Leider ohne das Material von Redundanzen zu reinigen und in eine logisch konsistente Darstellungsform zu bringen. Der rhapsodische Stil der Autorin ist zugleich unterhaltsam und ermüdend, die Leser/-innen werden von der eklektizistischen Theoriesammlung und der weitschweifigen Anekdotenfülle derart überwältigt, dass ihr das Denken und der (kritische) Nachvollzug der Argumentationen recht bald abhanden kommen. Am Ende fragt man sich etwas verwirrt: was will uns die Autorin eigentlich sagen? Ach ja, richtig, dass das Denken in binären Oppositionen falsch sei und dass wir alle bisexuell wären, wenn wir uns trauen würden.

Für Wissenschaftler/-innen aus dem Feld der Cultural Studies und Queer Studies bietet das Buch nichts Neues – zumal die deutsche Übersetzung erst mit 5 Jahren Verspätung erschien. Für weniger vorgebildete Leser/-innen, die an Bisexualität(-en) als Lebensform und Forschungsgegenstand interessiert sind, ist es als umfassende Einführung ins Thema durchaus zu empfehlen.

Da es in Deutschland – anders als in den USA – kaum (populär-)wissenschaftliche Bücher zum Thema gibt und die wenigen brauchbaren fast alle vergriffen sind, füllt Garbers XXL-Essay hierzulande eine Lücke. Das „Bisexuelle Netzwerk“ schreibt daher auch, „das Buch könnte die neue Bi-Bibel der deutschen Bisexuellen werden“ (3.1.03).

Bibel? Nun, Garber ist zwar keine Prophetin, aber in den USA als die bisexuelle Drag Queen der Cultural Studies mittlerweile zum Medien- und Talk-Show-Star avanciert. Die Webseite der Harvard Universität zeigt unter dem Namen Garber einen eleganten Mann mit kurzen Haaren im langen Kleid: „Garber is William R. Kenan Jr., Professor of English and Director of the Humanities Center at Harvard University“.

URN urn:nbn:de:0114-qn041169

Andrea Schüler

Arbeitsschwerpunkt: Gender Studies, Tanz, Körpersoziologie

E-Mail: aschuel@zedat.fu-berlin.de

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