Lexikon sucht Adressaten

Rezension von Carsten Schinko

Helmut Schanze (Hg.):

Metzler Lexikon Medientheorie – Medienwissenschaft.

Ansätze – Personen – Grundbegriffe.

Stuttgart, Weimar: Metzler 2002.

380 Seiten, ISBN 3–476–01761–3, € 39,90

Abstract: Nach etwa zwanzig Jahren gepflegter Medientheorie mehren sich die Handbücher und Einführungen, die Orientierungswissen im Dickicht der wuchernden Mediensemantik versprechen. Auch der Metzler Verlag gibt sich keine Blöße. Er schickt ein vielversprechendes Lexikon in die Konkurrenz der Kompendien, das nebenbei zwischen Theorie und Praxis vermitteln will.

Im Dickicht wuchernder Semantik

In seiner wohlwollenden Besprechung des groß angelegten Metzler Lexikons Literaturwissenschaft – Kulturwissenschaft wundert sich Oliver Jahraus über die Auslassung einer zentralen Vokabel. Zu Recht, wenn auch vergebens sucht er nach dem Eintrag zum Stichwort „Medienwissenschaft“. Im Gegensatz zur „Medienkulturwissenschaft“ fand dieses trotz des massiven Umfangs keinen Eingang. Das erstaunt, denn immerhin, so der Rezensent, sind die Medienwissenschaften neben den Kulturwissenschaften der aussichtsreichste Kandidat, wenn es um die „Austreibung des Geistes aus den Geisteswissenschaften“ und ähnlich gelagerte akademische Programme geht. Die von Jahraus beanstandete Lücke wird mit einem eigenständigen Kompendium desselben Verlages mehr als ausgiebig geschlossen.

Offen bleibt bei einer solchen Publikationspolitik die Frage nach dem Verhältnis zwischen den jeweiligen Disziplinen und ihren Leitbegriffen: In welchem Verhältnis stehen Kultur und Medien zueinander? Wer diese Frage an das Metzler Lexikon Medientheorie – Medienwissenschaft heranträgt und nach Informationen zum Themenkomplex „Kultur“ sucht, der findet lediglich die notorische „Kulturindustrie“. Auch die begriffliche Schnittstelle, eben die „Medienkulturwissenschaft“, im früheren Band noch prominent von Siegfried J. Schmidt moderiert, fand hier eine neue Heimat: File under „Medienwissenschaften“.

Publikationstechnische Pattsituation

Nun reagiert das Metzler Lexikon Medientheorie – Medienwissenschaft jedoch nur bedingt auf die anhaltenden akademischen Umstrukturierungsprozesse, die weg von hermeneutischer Sinnsuche hin zur post-hermeneutischen, kulturell oder medial vermittelten Sinnproduktion führen. Zielpublikum sind nicht mehr exklusiv Literatur- und Kulturwissenschaftler, auch die im Medienbetrieb Tätigen sollen von dieser Publikation nachhaltig profitieren. Damit handelt sich das Nachschlagewerk aber das Problem ein, die Theorie mit der Praxis vermitteln zu müssen – eine Vermittlung, die bislang eher als gepflegtes aneinandervorbei exerziert wurde.

Dem Herausgeber Helmut Schanze, Professor an der Universität Siegen, liegt viel daran, diese misslungene Kommunikationssituation nicht vorschnell der Medienbranche anzulasten, „die noch immer mehr vom Modell des ‚Learning by doing‘ oder der handwerklich orientierten Meisterlehre zu profitieren glaubt als von einer unverständlichen und weithin esoterisch formulierenden Medientheorie.“ (VI) Eher wird die Bringschuld bei den Medienwissenschaften verortet: „Sie sind in der Begriffsbildung gefordert und haben über ihre Ergebnisse in der wissenschaftlichen Öffentlichkeit zu berichten – in der stillen Hoffnung, dass diese Ergebnisse, in welcher Form auch immer, von der Medienpraxis zur Kenntnis genommen werden.“ (VI)

Die leicht irritierende Rede von einer „wissenschaftlichen Öffentlichkeit“ und deren skeptisch beurteilte Leistungsfähigkeit bringt das Dilemma auf den Punkt. Denn hier wird zwar von einer Differenzierung der Sphären (Wissenschaft und nicht Wirtschaft, Unterhaltung etc.) ausgegangen, deren Grenzen dann doch irgendwie – „in welcher Form auch immer“ und „hoffentlich“ – überbrückt werden und sich in Ergebnissen außerhalb der Wissenschaft niederschlagen sollen. Scharnier hierfür ist die Medientheorie, hat diese doch „ihren Ort in Wissenschaft und Praxis“. (V) Doch bleibt mit Sicherheit der Wissenschaft die Rolle vorbehalten, die meist mitgeführten und unsystematischen Theorien zu reflektieren, zu vergleichen und zu bewerten. Dazu bedarf es Zeit, einer Verlangsamung, die – wie Schanze selbst schreibt – „die immer hektischer auftretende Medienpraxis“ (VI) kaum aufbringen kann.

Gerade aus den Medienwissenschaften heraus kommend wirkt diese unsichere Mobilisierung des Öffentlichkeitsbegriffs fast schon nostalgisch. Eine Vielzahl der vertretenen Positionen oder Denker scheinen einer solchen „Aufklärung light“ jedenfalls mehr als skeptisch gegenüberzustehen. Verschärft wird dieser sicherlich nicht unsympathische Anspruch in seiner Problematik durch das Bestreben, auch inner-akademisch Wegmarken zu setzen.

Entsprechend behutsam und prägnant formuliert der Herausgeber Helmut Schanze in seinem Vorwort das editorische Profil des Bandes. Ihm und seinem Team ging es durchaus um eine Positionierung im und eine Reflexion des wissenschaftlichen Feldes. Ganz explizit soll die durchlässige Grenze zwischen Kultur- und Medientheorie abgeschritten werden. Letztere erkennt Schanze durchaus als „Teil einer allgemeinen Kulturtheorie“ an, diese wiederum werde allerdings – und das ist wohl das entscheidende Kriterium – „technologisch spezifiziert“ (V). Es geht um das Dazwischentreten der Vermittlung, das Wahrnehmung, Kommunikation, ja Handeln nachhaltig beeinflusst.

Uneinheitlichkeit der Medienwissenschaften

In gut 250 Einträgen wird nun dieses Dazwischen durchdekliniert. Neben zentralen Schlagwörtern und Sachartikeln sind es vor allem kurze Autorenskizzen, die einen Überblick über alte und neue Medien und die dazugehörigen Theorien verschaffen sollen. Mit Blick auf bisherige Lexika des Metzler-Verlages spricht der Herausgeber von zwei Erweiterungen: Einerseits soll die historische Erweiterung den Neuen Medien Platz gegenüber dem „Basismedium Schrift“ (VI) verschaffen. Abgezielt wird also „auf die neuen Graphien, wie Fotographie, Phonographie, Kinematographie, auf Hörfunk und Fernsehen, die technischen Audiovisionen als Speicher- und Distributionsmedien sowie auf die Digitalmedien, die Digitale Plattform, die alle bisherigen Medien quasi gleichberechtigt unter das Gesetz der Digitalisierung gebracht hat.“ (VI) Zugleich ist der systematischen Erweiterung daran gelegen, der Pluralität der Begriffe und Instrumentarien der Medienwissenschaften zu ihrem Recht zu verhelfen. Dass dabei eher eine Vielzahl konkurrierender Theoreme und Epistemologien zum Vorschein kommt als ein einheitliches Vokabular, kann also nicht wirklich verwundern.

Ob etwa die Medien nun den Menschen bestimmen, wie der Techno-Determinismus Friedrich Kittlers behauptet, oder ob doch wieder einem humanistischen Instrumentalismus Vorschub geleistet wird, darauf geben die einzelnen Beiträge mehr als eine Antwort.

Vereinheitlichungsgesten

Doch kann es im Pluriversum neuer und alter, heißer und kalter Medien trotz allem eine gewisse Verbindlichkeit geben? Wie steht es mit dem Anspruch eines Lexikons, Wissen greifbar und begreifbar zu machen? Bereits im Titel wird die Mehrzahl der im Vorwort konstatierten Medienwissenschaften wieder auf den Singular zurechtgestutzt. Hinsichtlich der doppelten Leserschaft (in Theorie und Praxis) waren also redaktionelle Entscheidungen gefordert, zumal der Umfang mit 380 Seiten erstaunlich knapp bemessen ist. Zum Vergleich führe man sich nur die üppigen 700 Seiten der zweiten Auflage des oben erwähnten literatur- und kulturwissenschaftlichen Pendants vor Augen.

Dass sich tatsächlich eine gewisse Homogenität einstellt, liegt wohl vor allem an der „Autorensozietät“ (VII), die sich ausgehend vom Sonderforschungsbereich 240 „Ästhetik, Pragmatik und Geschichte der Bildschirmmedien“ formiert hat. Deren erkennbares Anliegen ist es, den Essayismus mancher Theoretiker auszubremsen und in einen aufklärerischen Diskurs zu überführen. Daher wird neben inhaltlicher Kritik auch gerne mal vermeintlicher Stilbruch abgestraft. Ein Beispiel wäre der Eintrag zu Paul Virilio, dem bei allem Respekt nicht allein sein vehementer Kulturpessimismus vorgeworfen wird, auch sein collagenhaftes, assoziatives Schreiben bekommt schlechte Wertungen. Man kann eine solche Klartext-Emphase begrüßen oder verdammen, konzeptionell – das heißt mit Blick auf die anvisierte Theorie-Praxis-Vermittlung – ist diese Haltung durchaus schlüssig.

Gleichzeitig finden sich parallel zu diesem kollektiven Gestus durchaus Hinweise, dass die gesammelten Informationen „als Wissen von Personen über Medien“ erscheinen. (VII) So sind erstmals die Hauptartikel der jeweiligen Autoren kenntlich gemacht, indem statt des üblichen Autorenkürzels der volle Name angegeben wird.

Was nun die Gewichtung der diversen Medien angeht, lässt sich eine leichte Tendenz in Richtung Film und Fernsehen erkennen. Ruft man sich die adademische Verankerung des Kernbestands der Beteiligten am SFB 240 ins Gedächtnis, ist dies wenig überraschend. Ferner eignet sich insbesondere der Film für die doppelte Erweiterung. Denn einerseits hebt sich dieses Medium deutlich genug von Schrift und Buchdruck ab, die im Zentrum der kultur-orientierten Lexika standen. Andererseits aber kann es sich notgedrungen auf eine solidere theoretische und methodologische Gegenstandsbeschreibung berufen als etwa die Medien nach dem „digital turn“. Ein derartiges Fundament allerdings scheint vonnöten, um einen enzyklopädischen Ansatz zu legitimieren. Da die Film- und TV-Branche zudem einen beträchtlichen Teil des Medienbetriebes ausmacht, kann auch das Theorie-Praxis-Scharnier – vorerst noch theoretisch – gut geölt funktionieren.

Und Gender?

Bei der skizzierten Schwerpunktsetzung sollte man nicht damit rechnen, dass sich das Metzler Lexikon Medientheorie – Medienwissenschaft allzu sehr der Geschlechterforschung annähert. Entsprechend rar sind Einträge, die sich per se mit gender (oder race bzw. class) auseinandersetzen bzw. für diese Fragestellungen direkt von Ertrag sind. Das ist, um es nochmals zu erwähnen, nicht Resultat einer ideologischen Blindheit, sondern Teil einer schlüssigen Konzeption. Dass derartige Informationen auch in diesem Band nicht ganz ausbleiben, dafür sorgen vor allem Hinweise, die sich auf die Pragmatik, auf Mediennutzung und -wirkung beziehen. Hier finden sich die Sedimente der Fragestellungen aus den Cultural Studies. Für eine enggeführte Verbindung von Medientheorie und Geschlechterforschung ist der Band nicht geeignet. Wer also die Frage nach dem Geschlecht der Technologie beantwortet wissen will, der muss anderswo fündig werden. Für eine generelle technologische Grundlegung kulturwissenschaftlicher Fragestellungen ist der Band allemal von Interesse. Und das ist gar nicht wenig.

URN urn:nbn:de:0114-qn041125

Carsten Schinko

Graduierten Koll.: Pragmatisierung/Entpragmatisierung. Literatur als Spannungsfeld autonomer und heteronomer Bestimmungen. Arbeitsschwerpunkt: Literatur- und Kulturbegriff im afro-am. Roman

E-Mail: cschinko@web.de

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