Erlebten Frauen den Holocaust anders als Männer?

Rezension von Angela Schwarz

Dalia Ofer, Lenore J. Weitzman (eds):

Women in the Holocaust.

New Haven, London: Yale University Press 1998.

402 Seiten, ISBN 0–300–08080–8, $ 15.95/ £ 10.50

Abstract: Der vorliegende Sammelband basiert auf Vorträgen einer Konferenz aus dem Jahr 1995, auf der nach dem spezifischen Erleben des Holocaust durch Frauen gefragt wurde. In der Regel waren es Zeugnisse von Überlebenden, die die Grundlage für die Analyse von Verhalten und Reaktionen von Frauen bildeten. Diskutiert wurde aber nicht nur über die einzelnen Erfahrungsbereiche jüdischer Frauen in West- und Osteuropa in Zwischenkriegs- und Kriegszeit, sondern ebenso über die Anwendbarkeit der „Gender-Frage“ auf den Holocaust generell. Entstanden ist so ein interessanter Überblick über den aktuellen Stand der Diskussion, der die Grenzen und mehr noch die Chancen eines solchen Zugangs hervortreten läßt.

Möglichkeiten und Grenzen des Ansatzes in der Erforschung des Holocaust

Der „Gender“-Ansatz ist in der Historiographie des Holocaust nicht unumstritten. Mehr als in anderen Bereichen wird gerade im Zusammenhang mit der Verfolgung und Vernichtung der europäischen Juden bezweifelt, daß ein solcher Ansatz zu neuen Erkenntnissen führen, daß die Frage nach geschlechtsspezifischen Erfahrungen überhaupt gestellt werden könne, ja werden sollte. Die beiden Herausgeberinnen wie viele Autorinnen und Autoren des Bandes greifen in ihren Beiträgen die Problematik auf: Die sogenannte „Endlösung“ zielte ab auf den Tod jedes Juden unabhängig von Faktoren wie Geschlecht, Alter, sozialem oder wirtschaftlichem Status, Beruf oder Herkunftsland. Alle Juden sollten gleichermaßen getötet werden.

Eine Unterscheidung nach bestimmten Kategorien wie dem Geschlecht muß, so der Schluß, nicht nur unnötig, sondern sogar irreführend sein. Kritiker haben denjenigen, die diesen neuen Ansatz in der Holocaust-Forschung verfolgen, vorgeworfen, sie banalisierten den Schrecken, sie differenzierten zwischen den Opfern, so daß das Überleben weniger von den Lagerbedingungen und dem NS-Regime als von den – geschlechtsspezifischen – Taktiken des Überlebens abhängig gewesen sei. Überdies wird das Argument vorgebracht, die heutige Forschung wende auf das vergangene Geschehen Kategorien an, die damals keine Bedeutung besessen hätten. Schließlich gebe es genug Zeugnisse von Überlebenden, in denen Frauen erklären, ihre Identität als Frau sei für ihre Erfahrungen keine wesentliche Bedingung gewesen.

Die hier versammelten Forscher kommen in der gestellten Grundsatzfrage nicht zu einer einhelligen Meinung. Die Gegenüberstellung der Argumente und Thesen im Für und Wider erweist sich für den Band jedoch als Vorteil, können doch so die einzelnen Positionen unmittelbar miteinander verglichen werden. Die Herausgeberinnen verteidigen in der Einleitung ihr Engagement für die These, daß die Erfahrungen der Frauen nicht völlig anders als die der Männer, aber doch in Teilen anders, eben frauenspezifisch gewesen seien, weitgehend überzeugend. Angesichts der Tatsache, daß der Ansatz in der Holocaust-Forschung noch vergleichsweise neu ist und viele Fragen noch nicht erforscht, manche sogar noch nicht einmal gestellt worden sind, bleiben Schwächen in der Argumentation aufgrund pauschaler Darlegung der Sachverhalte nicht aus.

Ein Beispiel: Wenn die Widerlegung der kritischen Argumente durch die Herausgeberinnen auch schlüssig ist, so weist die Charakterisierung der Ausgangssituation, in der jüdische Frauen in West- und Osteuropa vor dem Holocaust lebten, doch gewisse Widersprüche auf. So ist einmal davon die Rede, Frauen in osteuropäischen Ländern seien zu einem größeren Teil als die in westeuropäischen berufstätig, seien stärker in die Kultur und Sprache des Landes, in dem sie lebten, integriert gewesen (vgl. S. 4). Das habe später ihre Chancen, mit falschen Papieren auf der „arischen Seite“ zu überleben, erhöht.

Weiter unten heißt es jedoch, der Mangel an Erfahrung im Berufsleben habe es den Frauen erschwert, in der Ghettosituation Arbeit zu finden, ihre Überlebenschancen folglich reduziert (vgl. S. 9). Solche Widersprüche mögen am Überblickscharakter einer Einleitung liegen. Sie verweisen andererseits jedoch darauf, wie sehr es noch an detaillierten Einzelstudien zu den aufgestellten – und zweifellos wichtigen – Fragen zum Holocaust mangelt.

Teilweise unterschiedliche Schrecken

In vier Sektionen wird nach Unterschieden – und Gemeinsamkeiten – in den Erfahrungen der Opfer gefragt: in den Jahren vor dem Krieg, in den Ghettos, in Aktionen des Widerstands und der Rettung anderer sowie in Arbeits- und Konzentrationslagern. Dies sind die Hauptabschnitte der Untersuchung. Nicht immer wenden sich die Autorinnen und Autoren primär der Rekonstruktion und Analyse der Erfahrungen zu.

Manche legen statt dessen mehr Gewicht darauf, Fragen für künftige Forschungen aufzuzeigen oder, wie es Joan Ringelheim und Lawrence Langer in zwei aufeinanderfolgenden Beiträgen tun, die Notwendigkeit oder auch fehlende Notwendigkeit des Ansatzes herauszustellen. Langer negiert, daß Geschlechterrollen das Handeln der Verfolgten entscheidend geprägt hätten, geschlechtstypisches Leiden existiert habe. Es spricht durchaus einiges für sein Argument, das Handeln des jeweiligen Menschen sei eher auf andere Faktoren wie Bildung, Erziehung, soziale Herkunft denn auf die Geschlechtszugehörigkeit zurückzuführen. Dennoch geht Langers Rede gegen den Ansatz an der Sache vorbei, wie Joan Ringelheim, aber auch Sara Horowitz und Myrna Goldenberg in der gleichen Sektion kenntlich machen. Am Ende drohte Männern wie Frauen die Ermordung, aber der Weg dorthin, so Goldenberg, konnte für die einen anders verlaufen als für die anderen.

Alle waren in der gleichen Hölle, aber es gab für Frauen zum Teil andere Schrecken als für Männer, eben solche, die sich aus ihrer Identität als Frauen ergaben. So wurden etwa Frauen bzw. Mütter bei Selektionen eher als Männer für die Gaskammern bestimmt. Schwangerschaft im Lager kam einem Todesurteil für die werdende Mutter wie das Kind gleich. Mit Abtreibungen oder Tötung des Neugeborenen mußten allein Frauen fertigwerden. Weit häufiger als Männer wurden Frauen Opfer sexueller Ausbeutung, was wiederum Ängste, physischen und psychischen Leidensdruck mit sich brachte, den Männer in der Form nicht kannten.

Demgegenüber hätten Frauen bei gleichen Anfangsbedingungen in einem Lager einen Vorteil gegenüber den Männern gehabt, weil sie, so Felicja Karay über das Arbeitslager Skarzysko-Kamienna, oft körperlich weniger hart hätten arbeiten müssen, sich länger darum bemühten hätten, auf ihr Äußeres zu achten und so ihre Würde zu bewahren, weil sie anpassungsfähiger gewesen seien (vgl. S. 305). Letztlich, daran läßt allerdings kein Beitrag einen Zweifel, war es nicht die Zugehörigkeit zu einem Geschlecht, einer Schicht, einem Bildungsumfeld oder einer Berufsgruppe, die über Leben und Tod entschied, sondern das NS-Regime – und der Zufall. Der Umschlag des Bandes zeigt vor einem schwarzen Hintergrund die Gesichter und Umrisse der Oberkörper von drei Frauen: eine den Betrachter selbstbewußt anschauende Mutter zwischen ihren erwachsenen Töchtern, 1941 fotografiert.

Trotz des unterschiedlichen Ausmaßes an neuen Ergebnissen in den einzelnen Beiträgen dieses Bandes, trotz der Grenzen, die dem Ansatz in der Erforschung des Holocaust zweifellos gesetzt sind, tritt deutlich hervor, daß die Frage nach den spezifisch weiblichen Erfahrungen des Holocaust zu einem großen Erkenntnisgewinn führen kann. Nicht die gefürchtete Banalisierung, sondern Erweiterung, Vertiefung und Individualisierung des bisherigen Wissens kann sie bewirken. Die Beiträge verweisen nicht auf ein grundsätzlich anderes Erleben des Holocaust, das Frauen und Männer unterschieden hätte, sondern innerhalb der gleichen Hölle auf andere Erfahrungen, Reaktionen und vielleicht auch Handlungsstrategien sowie spezifische das Leben nach der Befreiung bestimmende Traumata, die den Holocaust für Frauen als Frauen charakterisierten. Der Sammelband hinterläßt daher den Wunsch, daß weitere Untersuchungen folgen mögen, so daß das Thema künftig aus dem Schatten der bislang üblichen historiographischen Nichtbeachtung ebenso heraustreten kann wie die drei Frauen aus dem schwarzen Hintergrund des Umschlagbildes.

URN urn:nbn:de:0114-qn012020

PD Dr. Angela Schwarz

E-Mail: dr.a.schwarz@uni-duisburg.de

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