Gender Studies in der literaturwissenschaftlichen Mediävistik: Eine kulturwissenschaftliche Perspektive

Silke Winst

Germanistische Literaturwissenschaften als Kulturwissenschaft

In den letzten Jahren wurde in der Germanistik viel über Theorie und Methode des Faches diskutiert. Innerhalb der Diskussion nahm der kulturwissenschaftliche Ansatz einen ebenso prominenten wie umstrittenen Platz ein. Unter dem Titel „Germanistik als Kulturwissenschaft. Eine Einführung in neue Theoriekonzepte“ erschien nun im Juni 2002 eine von Claudia Benthien und Hans Rudolf Velten herausgegebene Aufsatzsammlung, die nicht nur theoretisch in die Forschung einführen möchte, sondern auch an Beispielen die Methoden exemplarisch vorstellt. Dabei ist die Literaturwissenschaft als Kulturwissenschaft für die Herausgeber keine neue „konkurrierende Methode“ neben anderen, sondern vielmehr ein „Globalparadigma“ (S. 15f). Wir haben Silke Winst gebeten, unter dem Genderaspekt am Beispiel der älteren deutschen Literatur das innovative Potential der Kulturwissenschaft für die Literaturwissenschaft darzustellen.

1. Literatur- als Kulturwissenschaft

Die Entwicklung einer kulturwissenschaftlichen Orientierung der Literaturwissenschaft, wie sie in den letzten Jahren zu beobachten ist, hat weitreichende Konsequenzen: Das Zentrum literaturwissenschaftlicher Tätigkeit hat sich von einer weitgehend isolierten Betrachtung literarischer Texte auf eine Verortung eben dieser Texte innerhalb spezifischer historischer Situationen und kultureller Bedingungen verschoben. Sicherlich bilden literarische Texte nach wie vor zentrale Forschungsgegenstände, doch hat eine Pluralisierung der zu untersuchenden Quellen eingesetzt. Durch diese Ausweitung, wie sie sich etwa in der Untersuchung verschiedener Diskurse und kultureller Praktiken manifestiert, soll aber gerade eine bessere Erschließung der Besonderheiten literarischer Texte gewährleistet werden. Im Zusammenspiel mit weiteren kulturellen Deutungsmustern und Zeichensystemen haben sie teil an der Produktion eines komplexen kulturellen Bedeutungsgewebes. Die Bestimmung ihrer Position in (historischen) bedeutungsstiftenden Ordnungen zielt auf die Eröffnung neuer Verständnisebenen von Literatur und die erhöhte Erkennbarkeit der Besonderheiten literarischer Texte als spezifischen diskursiven Formationen.

Mit der kulturwissenschaftlichen Ausrichtung der Literaturwissenschaften sind mehrere theoretische Konzepte verbunden, die in dem neu erschienenen Sammelband Germanistik als Kulturwissenschaft. Eine Einführung in neue Theoriekonzepte vorgestellt werden.[1] Diese Tendenzen der kulturwissenschaftlichen Forschung setzen jeweils Forschungsschwerpunkte, bieten aber vielfache Anschlussmöglichkeiten für weitere kulturwissenschaftliche Ansätze. Diese Hybridisierung kulturwissenschaftlicher Methoden geht mit einem fächerübergreifenden methodologischen Austausch einher, der ebenfalls eine spezifisch kulturwissenschaftliche Ausprägung von Forschung darstellt. Innerhalb einer solchen kulturwissenschaftlichen Perspektive sind auch die Gender Studies zu verorten: Die Untersuchung der kulturellen Konstruktion von Geschlechterdifferenz in unterschiedlichen historischen Räumen ist als genuin kulturwissenschaftliches Projekt zu begreifen. Da die gesellschaftliche Konstitution von Gender kein in sich abgeschlossenes Gebiet bildet, sondern übergreifend in sozio-kulturellen Zusammenhängen wirksam ist, eröffnen sich auch hier die eben beschriebenen Möglichkeiten zur Verknüpfung mit weiteren kulturwissenschaftlichen Theorien und Forschungsgegenständen. Ich komme darauf zurück.

2. Gender Studies: Theoretische Grundlagen

Im Unterschied zu früheren feministischen Studien, die sich vornehmlich der Rekonstruktion weiblicher Erfahrungen und der Wiederentdeckung von Autorinnen widmete, nehmen die Gender Studies ein breiteres Forschungsfeld in den Blick. Das Interesse verlagerte sich zunächst auf die Beschreibung von spezifischen sex/gender – Systemen. Gayle Rubin beschrieb ein solches System als „systematischen sozialen Apparat“, der „den biologischen Rohstoff“ des anatomischen Geschlechts sozial überschreibt und formt.[2] Diese Unterscheidung vom anatomischen Geschlecht (sex) als biologischer Grundlage des sozialen Konstrukts der Geschlechtsidentität (gender) wurde vorgenommen, um zu verdeutlichen, dass nicht „natürliche“ Eigenschaften von Frauen und Männern unterschiedliche Geschlechtsidentitäten und -rollen bedingen, sondern dass diese Zuschreibungen und ihre asymmetrischen Wertungen kulturell bedingt sind und mit Mechanismen der Hierarchisierung zusammenhängen, die konstitutiv für die Organisation einer patriarchalischen Gesellschaft sind.

Eine solche Trennung von sex und gender bleibt jedoch einer essentialistischen Sichtweise verhaftet, da sie den Körper als natürliche, unveränderbare Substanz begreift, die der kulturellen Konstruktion vorgängig ist und auf der nachträglich kulturelle Einschreibungen vorgenommen werden. Spätestens mit Judith Butler ist die Auffassung einer quasi natürlichen, d.h. von der gesellschaftlichen Sinnproduktion unabhängigen, geschlechtlichen Differenzierung der Körper in männliche und weibliche grundsätzlich in Frage gestellt worden. Butler fordert die kritische Analyse der Unterscheidung von sex und gender, da auch die Wahrnehmung der anscheinend natürlichen biologischen Geschlechter durch soziale Prozesse geformt wird. Demnach muss der Begriff gender „nicht nur als kulturelle Zuschreibung von Bedeutung an ein vorgegebenes anatomisches Geschlecht gedacht werden“, sondern ebenso „jenen Produktionsapparat bezeichnen, durch den die Geschlechter (sexes) selbst gestiftet werden.“[3] Butler kennzeichnet demnach den geschlechtlichen Körper selbst als eine kulturell generierte Kategorie, deren Konstruktion allerdings verschleiert wird und deshalb als ‚natürlich‘ erscheint. Die vermeintlich natürliche, vordiskursive Materialität der Körper beschreibt Butler als „die Wirkung einer Machtdynamik“[4], als Effekt der Macht.

3. Gender Studies in der Mediävistik: Ansätze und Arbeitsfelder

Butlers Überlegungen zur kulturellen Konstruiertheit – und damit Veränderbarkeit – von Geschlechtsidentitäten bieten grundsätzliche Ansatzpunkte für die Beschreibung von Geschlechts- und Identitätskategorien in historisch differenten Zeiten und Räumen. Zur Betrachtung dieser Kategorien im Rahmen historischer Strukturen und Denkweisen sind nicht nur literarische Texte, sondern auch ihre Verortung innerhalb eines Feldes diskursiver Beziehungen zu berücksichtigen, um spezifische Formationen sozialer Praktiken und gedachter Ordnungen erfassen zu können. Das Zusammenspiel von Diskursen – wie dem medizinischen, theologischen und literarischen – ist als Wirklichkeit stiftende Produktion zu begreifen. Literarische Texte konstituieren ebenfalls ‚Realität‘: Als kulturelle Selbstdeutungen verarbeiten sie bereits vorhandene Ordnungsmuster und bringen durch Umstellung und Neubestimmung eigene Deutungssysteme hervor. Historisch divergente Ausprägungen von Diskursen sind dabei jeweils mitzudenken, wie z.B. die relativ strenge Trennung von Wissenssystemen in der mittelalterlichen Ständegesellschaft sowie ihre sehr unterschiedliche Institutionalisierung und die damit verbundene Verbreitung und Speicherung von Ordnungen des Wissens.

Eine historische Perspektive eröffnet die Möglichkeit der Beschreibung von alternativen Geschlechterdiskursen und Identitätsformationen, die mit der modernen Opposition ‚männlich‘ – ‚weiblich‘ nur unzureichend charakterisiert wären, da sich im Gegenteil gerade die Beweglichkeit und die noch ungefestigten Bedeutungen dieser Kategorien abzeichnen. Für die Gender-Forschung in der literaturwissenschaftlichen Mediävistik bedeutet dies, dass zuallererst eine theoretische Historisierung der Geschlechts- und Identitätskategorien vorgenommen werden muss. Butler formuliert in ihren Arbeiten zur modernen Identitätsbildung den untrennbaren Zusammenhang von Subjekt-Bildung und Geschlechterdifferenz. Geschlechtlich bestimmte Identitäten werden als erzwungene Effekte von „Regulierungverfahren der Geschlechter-Ausbildung und Teilung“[5] verstanden. Die Intelligibilität dieser Geschlechtsidentäten wird durch regulierte Beziehungen der Kohärenz und Kontinuität zwischen Geschlecht (sex), Geschlechtsidentität (gender), Begehren und sexueller Praxis produziert. Auf diese Weise wird Heterosexualität als naturalisiertes, normatives System hervorgebracht.

Eine solche moderne Organisation von Geschlechtsidentitäten in binären, hierarchischen Oppositionen mit asymmetrischen Wertungen der Termini ‚männlich‘ und ‚weiblich‘ und die an sie gekoppelte Heteronormativität kann nicht ohne weiteres auf historisch fremde Zeiträume übertragen werden. Stattdessen empfiehlt sich eine gesonderte Betrachtung der von Butler hinsichtlich der Moderne in Zusammenhang theoretisierten Komponenten von Geschlechtsidentität, wie sie Judith Klinger in ihren grundlegenden Arbeiten vorgeschlagen hat. Aus dieser Trennung ergeben sich mehrere Forschungsperspektiven der mediävistischen Gender Studies[6], die ich im Folgenden kurz umreißen möchte.

1. Die Analyse der Formationsprozesse von Identität, die an spezifische Ausprägungen von Geschlechterdiskursen gekoppelt sind, bildet einen wichtigen Arbeitsbereich. Verschiedenen mittelalterlichen Wissensdiskursen entsprechen divergente Imaginationen von Geschlechterdifferenz bzw. -analogie. Der medizinische Diskurs siedelt beide Geschlechter auf einer Beschreibungsskala an, so dass die Grenzen zwischen männlich und weiblich durchlässig erscheinen und in der Tat überschritten werden können. Zwar wird dem weiblichen Körper die weniger perfekte Stellung auf der Skala zugewiesen, jedoch können außergewöhnliche Frauen genauso ‚Männlichkeit‘ und Perfektion erreichen wie Männer durch den Verlust ihrer Insignien in die Weiblichkeit absinken. Auch in theologischer Perspektive existiert ein von Laqueur[7] so genanntes one-sex model, auch wenn es anders begründet ist: Durch Absage an ihren Körper und Verweigerung sexueller Handlungen wird die mögliche Transzendenz der weiblichen Position zugunsten einer Perfektionierung, verstanden als ‚Vermännlichung‘, formuliert. Daneben existiert jedoch eine ebenfalls theologische Ausformulierung der Geschlechteroppositionen hinsichtlich der moralischen Minderwertigkeit der Frau, die im Geschehen der Genesis u.a. in ihrer Verantwortlichkeit für die Erbsünde begründet wird.

In literarischen Entwürfen sind die noch ungefestigten Bedeutungsanlagerungen an die changierenden Konstruktionen von ‚Männlichkeit‘ und ‚Weiblichkeit‘ zu beschreiben. So ist gerade die Konstitution von ‚Weiblichkeit‘ in den verschiedenen Diskursen mit derartig vielfältigen Konstellationen verknüpft, dass man noch kaum von ‚Weiblichkeit‘ in der Einzahl ausgehen kann, und schon gar nicht von der Existenz einer gedachten Einheitlichkeit von Verhaltensweisen und ‚psychischen‘ Dispositionen. Stattdessen existiert nicht nur in verschiedenen Gattungen, sondern auch innerhalb von Genres und Stofftraditionen eine Pluralität von Modellen, die einerseits unter dem Aspekt eines sich abzeichnenden Strukturwandels von Geschlechterdifferenz betrachtet werden können, die aber andererseits mitnichten einer kontinuierlichen, linearen Entwicklung folgen. Traditionsbildende Modelle stehen neben solchen, die mit dem Ausgang des Mittelalters verschwunden sind.

Die Alterität mittelalterlicher Ordnungsmuster von Identität zeichnet sich auch insofern ab, als dass (literarische) Konstruktionsmodelle existieren, die die Komponente der Geschlechtsidentität vernachlässigen oder gänzlich andere Muster – wie z.B. ständische Zugehörigkeit – favorisieren. Grundlage für jegliche mittelalterliche Identitätsbildung ist die Einordnung des Einzelnen in ein Kollektiv: zum einen in das ständische Kollektiv, zum anderen in verwandtschaftliche Strukturen. Zusammenhänge und Konkurrenzen von ständischer und geschlechtsbestimmter Identität müssten für die verschiedenen literarischen Gattungen und Erzähltraditionen sowie in weiteren Diskursen untersucht werden. Des Weiteren wäre die Relevanz bzw. Existenz eines Konzepts von Geschlechtsidentität in eingeschlechtlichen Gruppen – wie Kloster- oder Heeresverbänden – zu untersuchen, da dort die Relation zum anderen Geschlecht fehlt.

2. Ein weiterer Arbeitsbereich umfasst die Analyse von Körperdiskursen. Butler beschreibt die Materialisierung des Körpers als einen Prozess, der von regulierenden Normen abhängt und mit Bedeutungskonstitution einhergeht. Diese Infragestellung der ontologischen Unveränderbarkeit der in weibliche und männliche differenzierten Körper eröffnet einen Zugang zur Erforschung historischer Darstellungs- und Deutungsmuster von Körperlichkeit. Insbesondere ikonographische Darstellungen und Bildprogramme eröffnen den Blick nicht nur auf (abweichende) Konstruktionen des geschlechtlichen Körpers, sondern auch auf Inszenierungen von Körperlichkeit, die sämtliche (moderne) Dichotomien aufhebt und auf gänzlich andersartige identitätstiftende Körperbedeutungen verweisen.

Theologische und religiöse Diskurse thematiseren u.a. einen Sonderfall von Körperlichkeit: den Leib Jesu Christi. Dieser vereint nicht nur die eigentlich unvermittelbaren Gegensätze der menschlichen und der göttlichen Natur in sich, in der Darstellung des körperlichen Leidens als Erlösungswerk an der ganzen Menschheit zeigen sich auch Bedeutung von Körperlichkeit, die von einer modernen Betrachtungsweise abweichen. Ferner markieren die unterschiedlichen symbolischen Existenzformen des Corpus Christi – wie der Konzeption von der Kirche als Körper Christi – sowie seine realkörperlicher Präsenz – wie in der Eucharistie – die wechselseitige Abhängigkeit zwischen Signifikationen des Körpers und den Mechanismen seiner Materialisierung. In verschiedenen Bildtypen werden auch geschlechtsspezifische Darstellungen virulent: Eine Feminisierung des gekreuzigten Jesus durch die Parallelisierung der Seitenwunde mit der milchspendenden Brust Marias oder durch die Darstellung der vom Körper abgetrennten Seitenwunde als weibliches Genital verweist auf die Transzendierung geschlechtlicher Dichotomien im Leib Jesu. Wechselnde Bedeutungen von Weiblichkeit und Mütterlichkeit werden gerade im klösterlichen Bereich nicht nur an Jesus und an diverse Heilige, sondern auch an Äbte und andere Kirchenfunktionäre mit seelsorgenden Aufgaben angelagert.[8]

Die Konstruktion des idealen, adligen Körpers in der weltlichen Literatur stellt grundlegende Komponenten für die Herstellung der ständischen Identität des Adels aus. Der adlige Leib inszeniert sich in der Zurschaustellung seiner Schönheit und der Thematiserung von personaler Gewaltsamkeit als souveräner Herrschaftsträger. Adlige Körperlichkeit wird also zuallererst durch die Kriterien ständischer Identität strukturiert. Die an den adligen Körper gekoppelte Machtrepräsentation und Herrschaftslegitimation kann sich gattungsspezifisch entweder in der ungedämpften Affektivität und Aggeressivität oder aber im Triebaufschub manifestieren; auch eine Überlagerung beider Konzepte ist möglich. In der höfischen Reglementierung der Gewalt und Triebhaftigkeit kommen dann auch geschlechtlich differenzierte Rollen in den Blick: Die Disziplinierung der meist männlichen Protagonisten wird als Selbstermächtigung im Sinne des Erlangens von Körperkontrolle gedacht, während die adlige Dame das höfisch-zivilisatorische Ideal repräsentiert.

Neben diesen Beispielen weist die mittelalterliche Kultur viele variierende Körperdiskurse auf, die ganz unterschiedliche Möglichkeiten der Konstruktion von Körperlichkeit und Materialität entwerfen und den mediävistischen Gender Studies ein breites Forschungsfeld bieten.

3. Die Untersuchung mittelalterlicher Konzeptionen von Begehren und ‚Sexualität‘ muss ebenfalls die vormodernen diskursiven Gegebenheiten miteinbeziehen. Michel Foucault[9] hat eine grundsätzliche Unterscheidung vorgenommen: Die moderne Kategorie der Sexualität beschreibt eine inhärente, identitätsstiftende Neigung von Individuen, die so in vormodernen Gesellschaften nicht existiert. Stattdessen kann man von einer mittelalterlichen Einteilung und Bewertung sexueller Akte ausgehen, die als Handlungstypen und nicht als Manifestationen einer durch Sexualität bestimmten Identität gedacht wurden. Foucaults Überlegungen können die Grundlage für eine notwendige Historisierung der Komplexe ‚Sexualität‘ und Begehren bilden. Allerdings scheint eine Fokussierung auf sexuelle Akte – so nützlich sie für die Auswertung vom sozialen Umgang mit sexuellem Verhalten auf der Grundlage von Gesetzestexten o.ä. sein kann – für die Beschreibung mittelalterlicher Ökonomien des Begehrens zu kurz zu greifen. Hier wären umfassende Untersuchungen zu Formen und Strukturen des Begehrens notwendig, die mit einer Kritik an der bisher in der Forschung dominanten Vorstellung einer ahistorischen Heteronormativität einhergehen.

Die nähere Untersuchung des moralisch-theologischen Klassifizierungssystems sexueller Handlungen bietet eine erste Annäherung: Die Einteilung und Bewertung von erlaubten und verbotenen sexuellen Handlungen organisiert sich um die Opposition von erlaubten, der Fortpflanzung dienenden sexuellen Akten innerhalb der Ehe vs. unerlaubten sexuellen Aktivitäten außerhalb der Ehe. Den relativ begrenzten Praktiken der ersten Gruppe steht demnach das ausgedehnte Konzept der Sodomie gegenüber, das so Unterschiedliches wie den Samenerguss in nicht dafür vorgesehene Körperöffnungen, analen oder oralen Sex (auch als heterosexuelle Praktik in der Ehe), Sex mit Tieren, Sex mit Partnern des gleichen oder des anderen Geschlechts außerhalb der Ehe etc. in sich aufnimmt. Insofern existiert zwar eine Form von normativer Heterosexualität, jedoch in Kleinstausprägung (nur auf ‚heterosexuelle‘ Akte in der Ehe bezogen). Zudem wird sie durch das über jeglichen sexuellen Aktivitäten stehende Ideal des Zölibats abgewertet.

Die weltliche Literatur präsentiert diverse Zusammenhänge von Begehren und Geschlecht. So arbeitet die höfische Literatur zunehmend an der Erotisierung der Beziehungen zwischen den Geschlechtern. Über das Begehren nach dem anderen Geschlecht wird die Konstitution von Identitäten verhandelt und neue Deutungsmuster von Liebe und Ehe entwickelt. In anderen Gattungen stehen stattdessen Männerbeziehungen im Mittelpunkt, die identitätsstiftend wirken. Freundschaften, Lehns- und Dienstbeziehungen sowie verwandtschaftliche Bindungen: Dies sind die zentralen Formen mittelalterlicher Vergesellschaftung, die auf der politischen Wirksamkeit zwischenmännlicher Beziehungen beruhen. Nicht nur bilden diese Beziehungen die Basis der Gesellschaft, ihnen eignet auch ein großes Ausmaß an Emotionalität und Zuneigung. Diese sehr positiv bewertete Affektivität der gesellschaftskonstituierenden Beziehungen zwischen Männern verweisen auf Konzeptionen von Begehren, die gänzlich anders organisiert sind als die der modernen Gesellschaften. Ein konkretes heterosexuelles Begehren äußert sich in diesen Texten jedenfalls nicht, auch wenn das allgemeinere männliche Begehren nach Herrschaft neben der Inbesitznahme diverser Objekte auch Frauen miteinschließen kann. Eheschließungen sind damit nicht Ausdruck eines persönlichen Begehrens, sondern erfüllen den Zweck der Befestigung adliger Beziehungen und der Weiterführung der Dynastie. Zur Beschreibung dieser Strukturen können Ansätze aus den queer studies fruchtbar gemacht werden, so wäre z.B. Eve Kosofsky Sedgwicks Konzept der Homosozialität auf seine Anwendbarkeit in den mediävistischen Gender-Studies zu überprüfen.[10]

4. Ausblick: Vernetzung der Forschungsansätze

Separierte und unterschiedlich stark ausgeprägte mittelalterliche Diskurse verhandeln diverse Entwürfe von (Geschlechts-)Identität, Konzeptionen von Begehren und Körpern, die die zentralen Forschungsgegenstände einer gender-theoretisch orientierten mediävistischen Literaturwissenschaft bilden. Gleichwohl ergeben sich verschiedene Möglichkeiten der Verknüpfung mit anderen kulturwissenschaftlichen Theorien: So kann die Konstruktion von Geschlechterdifferenz ebenfalls in der historischen Anthropologie verortet werden. Die (Selbst-)Reflexionen des Menschen über sich selbst, die Beschreibung der als spezifische Eigenschaften des Menschseins begriffenen Konstellationen muss die Imaginationen und Wertungen von Körper und Geschlecht, Begehren und Identität miteinschließen. Diese sind an verschiedene Ordnungen des Wissens und Machtverhältnisse geknüpft und können die Alterität mittelalterlicher Beziehungsstrukturen näher beschreiben.

Auch die Performativitätstheorien weisen Parallelen zu gendertheoretischen Fragestellungen auf: Beschreibt jener Ansatz Kultur generell als Aktivität, als dynamischen Prozess, ist der Begriff der Performativität auch in den gender-theoretischen Überlegungen zentral. Geschlechtsidentität und Materialität des Körpers werden als performativ konstituiert gedacht, also jeweils als durch spezifische Inszenierungen hervorgebracht. Schließlich bietet auch die Medien- und Kommunikationstheorie Möglichkeiten der Anknüpfung: Hier könnten insbesondere Fragen nach geschlechtsspezifischen Kommunikationsformen und ihrer medialen Zusammenhänge sowie nach geschlechtsspezifischen Zugängen zur Literaturproduktion erörtert werden, aber auch wechselseitige Abhängigkeitsverhältnisse von thematisch verknüpften Text- und Bildprogrammen. Eine kulturwissenschaftliche Ausrichtung der Literaturwissenschaft pluralisiert somit nicht nur die Forschungsobjekte, sondern auch die methodischen Ansätze, die komplexe Konfigurationen von kulturellen Ordungsmustern und Wirklichkeitsstrategien erhellen können.

Anmerkungen

[1]: Claudia Benthien/Hans Rudolf Velten (Hgg.): Germanistik als Kulturwissenschaft. Eine Einführung in neue Theoriekonzepte. Reinbek 2002.

[2]: Gayle Rubin: The Traffic in Women: Notes on the ‘Political Economy’ of Sex. In: Reiter, Rayna (ed.): Toward an Anthropology of Women. New York 1975, S. 157–210, hier S. 158 u. 165. (Die Übersetzung aus dem Englischen ist meine eigene.)

[3]: Judith Butler: Das Unbehagen der Geschlechter. Frankfurt 1991, S. 22.

[4]: Judith Butler: Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts. Frankfurt 1995, S. 22.

[5]: Butler 1991 (wie Anm. 3), S. 38. Das Folgende ebenfalls nach Butler 1991, S. 38f.

[6]: Vgl. Judith Klinger: Ferne Welten, fremde Geschlechter: Gender Studies in der germanistischen Mediaevistik. In: Potsdamer Studien zur Frauen- und Geschlechterforschung 3.1 (1999), S. 47–61; und dies.: Gender-Theorien: Ältere deutsche Literatur. In: Germanistik als Kulturwissenschaft (wie Anm. 1), S. 267–297.

[7]: Vgl. Thomas Laqueur: Auf den Leib geschrieben. Die Inszenierung der Geschlechter von der Antike bis Freud. Frankfurt 1992.

[8]: Siehe die Arbeiten von Carline Walker Bynum: Fragmentation and Redemption. New York 1991, sowie dies.: Jesus as Mother: Studies in the Spirituality of the High Middle Ages. Berkeley 1982.

[9]: Michel Foucault: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit 1. Frankfurt 1983.

[10]: Vgl. Eve Kosofsky Sedgwick: Between Men. English Literature and Male Homosocial Desire. New York 1985.

URN urn:nbn:de:0114-qn032239

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