52. Berlinale 2002 – Rückkehr des Politischen und Frauen verändern die Welt

Maria Marchetta

Am rechten Bildrand schlägt eine Frau ein Loch in den Boden, die Eisschicht gibt nach. Sie füllt einen Metalleimer mit Wasser, und dann sehen wir, in einer unendlich langen Einstellung, wie sie nach links durch eine raue Schneelandschaft stapft. Es ist eiskalt. Ihr Weg ist lang und beschwerlich. Minutenlang hält die Kamera ihren Gang durch die weiße Schneefläche in grobkörnigem Schwarzweiß fest. Erst als die Frau den linken Bildrand erreicht, erfolgt ein Schnitt. Der Wasserklumpen – auf dem langen Weg ist das Wasser längst gefroren – wird auf den Rentierschlitten gepackt.

Mit solchen reduzierten Einstellungen gelingt es Markku Lehmaskallio und Anastasia Lapsui, die Lebensweise der Nenets einzufangen. Die Nenets sind ein nomadischer Volksstamm, der an der nördlichsten Küste Russlands lebt. Elämän Äidit (Mothers of Life) (Forum) ist ein poetisches Dokument über das Leben von Mutter und Tochter der Nenet Familie Yaptik. Die beiden Frauen, die einzigen, die von ihrer Familie übriggeblieben sind – alle männlichen Familienmitglieder sind umgekommen –, trotzen der Kälte und suchen ihren Weg zu selbstbestimmtem Leben.

Von der Rückkehr des Politischen

Den Filmen der 52. Berlinale, nach 20 respektive 30 Jahren die erste unter neuer Leitung, ist die Rückkehr des politischen Anspruchs abzulesen. Die moralische Indifferenz der letzten Jahre scheint einer neuen Besinnung auf das Politische gewichen zu sein. Die Filme wollen wieder Werte vermitteln und strafen die Postmoderne Lüge, die spielerischen Beliebigkeiten und Dekonstruktionen der 80er und 90er Jahre scheinen überwunden. Die RegisseurInnen beschwören eine totgeglaubte Zeit zurück, wie sie in den späten 60ern begann. In den Filmen des frühen neuen Jahrtausends geht es nicht mehr länger um Posen, sondern um Haltungen – es wird weniger geplappert und mehr gehandelt. Es werden starke weibliche Hauptrollen ge- und erfunden und die Leinwände mit eigensinnigen, sich widersetzenden Frauen bevölkert; vorbei scheint die Zeit, in der Frauen einfach schöner litten. Insofern war es geradezu programmatisch, dass die neue Leitung die alljährliche Retrospektive den rebellischen Filmen der 60er Jahre widmete. Katja Nicodemus bezeichnete diesen filmhistorischen Rückblick in der ZEIT dann auch als „das politische Über-Ich des Festivals“.[1]

Frauen verändern die Welt

Die Auswahl der hier zu besprechenden Filme fällt mir schwer, so viele wären es wert, vorgestellt zu werden, in so vielen lernen wir engagierte, aktive Frauen kennen. Ein kursorischer Blick muss genügen.

In dem japanischen Dokumentarfilm Enan No Musume (Daughter From Yan’an) (Forum) von Ikeya Kaoru (gedreht in der neuen und bestechenden HD-TV- Technik) bemüht sich die bei Pflegeeltern in der südchinesischen Provinz Yan’An aufgewachsene junge Frau Haixia ihre leiblichen Eltern zu finden. Als Intellektuelle aufs Land verbannt, war es damals den jungen Leuten verboten Kinder zu bekommen. Die Geschichte dieser dennoch heimlich geborenen Kinder ist bis heute in China eine verschwiegene Geschichte. Mit ihrer Suche bringt Haixia nicht nur die arme, einfache Dorfbevölkerung gegen sich auf, sondern wagt es damit, ein tabuisiertes Thema über die chinesische Kulturrevolution öffentlich zu machen.

Monika Treut porträtiert in Kriegerin des Lichts[2] (Panorama) die brasilianische Künstlerin und Menschenrechtlerin Yvonne Bezerra del Mello und ihr Strassenkinderprojekt „Uere“[3]. Del Mello begreift Erziehung und Bildung als Chance zur Veränderung der Welt. Die Kids leben in Slums und Gewalt ist für sie normal. Die Kriegerin des Lichts jedoch will ihnen die Erfahrung ermöglichen, dass Gewalt nicht normal ist. Treuts Film, der zum Denken und Handeln anregt, gibt ein schönes Sprachrohr für Del Mellos „mentale Revolution“. Wir sollen kein Mitleid haben, sondern helfen den Geist zu verändern, denn die Menschen in den Slums von Brasilien brauchen weder unser Mitleid noch unser Schuldgefühl.

Bei dem autobiographischen Dokument Mein kleines Kind[4] (Perspektive Deutsches Kino) von der Hebamme und Filmemacherin Katja Baumgarten werden wir Zeug/-innen einer reflektierten und sensiblen Auseinandersetzung mit ethischen Werten und der selbstbestimmten Entscheidung über Leben und Tod. Die alleinerziehende Mutter dreier Kinder wird in der 21. Schwangerschaftswoche mit der Diagnose eines komplexen Fehlbildungssyndroms, dem Verdacht einer Chromosomenanomalie, konfrontiert. Die Ärzte legen eine sofortige Bendigung der Schwangerschaft nahe. Mit einfachen Bildern hält der Film fest, wie reflektiert und herzlich Katja Baumgarten mit der Anforderung, über die Dauer von Leben und die Bedingungen des Todes zu entscheiden, fertig wird. Martin Tim wird geboren und erlebt wenigstens in den wenigen Stunden seines kurzen Lebens, was es heisst, auf dieser Welt willkommen und geliebt zu sein. Ein ethisch höchst anspruchsvoller Film, der von der Liebe und der Selbstbestimmtheit einer Frau handelt.[5]

Aber auch im Spielfilm begegnen uns eigenständig, gar feministisch handelnde Frauen. Coline Serreau versteht etwas von Anfängen und vom Leben, den Dramen und dem Humor. Sie braucht nur ein paar Minuten, die Erschütterungen des Systems aufzudecken. Hélène und Paul, ein Ehepaar, das sich auseinandergelebt hat, werden auf der Fahrt zu einem Abendessen unmittelbar Zeugen, wie eine Prostituierte brutal von Zuhältern misshandelt wird. Von Gewissensbissen gequält macht sich Hélène am nächsten Tag auf die Suche nach dieser jungen Frau. Sie findet Malika in der Intensivstation eines Pariser Krankenhauses, betreut sie, lernt ihr Schicksal kennen und freundet sich mit ihr an. Wieder auf den Beinen, erteilt die algerische Prostituierte dem anderen Geschlecht eine Lektion in Rassismus, Sexismus und überhaupt in Liebe und Menschlichkeit. Dass der erste Schritt für Frieden und Gerechtigkeit mit einem klaren Nein zu Lebensumständen beginnt, die einem nicht gut tun, ist selten so überzeugend und dennoch so humorvoll ausgedrückt worden wie in Serreaus Dramakommödie Chaos[6] (Panorama). Im letzten Bild – Hélène, Malika, ihre kleine, vor der Zwangsverheiratung gerettete Schwester und Hélènes Schwiegermutter auf einer Bank im Garten eines Hauses am Meer – kondensiert sich die Hoffnung auf Frieden und eine selbstbestimmte Zukunft ohne unterdrückende Väter, Gatten und Zuhälter.

Diven und Frauen, die aus dem Schrank kommen

Halb Krimi, halb Musical, halb Screwball-Comedy, aber vor allem eine uneingeschränkte Liebeserklärung, ja eine Anbetungserklärung an die Diven der Schauspielkunst hat François Ozon mit 8 Femmes[7] (Wettbewerb) abgeliefert. Der Mord am einzigen Mann in der Villa in der französischen Provinz der 50er Jahre gleich zu Beginn des Films ist nicht mehr als der Aufhänger für Ozons intrigenreichen Divenfilm. Abgeschnitten von der Welt lügen sich die 8 Stars des französischen Kinos mit sichtlicher Freude am Spiel um Kopf und Kragen. Als Fanny Ardant, die nicht nur die unbeliebte Schwester des eben ermordeten Hausherrn ist, sondern auch, wie sich zum Erstaunen der versammelten Damen herausstellt, ein Liebesverhältnis mit der schwarzen Köchin unterhält, ihren schwarzen Mantel öffnet und vom leuchtenden Rot des Mantelinnenfutters umgeben erstrahlt, ging ein Raunen der Begeisterung durch den bis auf den letzten Platz besetzten Berlinale Palast. Und als sich am Ende des Films das Ringen der beiden Rivalinnen Fanny Ardant und Catherine Deneuve – die Gattin des ermordeten Hausherrn – in ein leidenschaftliches Liebesspiel wandelt, musste ich an Susan Sarandons Äusserung denken, dass man nicht betrunken sein müsse, um mit Catherine Deneuve ins Bett zu wollen. Und wer wollte dem widersprechen?

Der mutmachendste Film war mit Sicherheit Ruthie and Connie: Every Room in the House (Panorama) von Deborah Dickson. Aus der Rückschau einer 25 jährigen Liebesbeziehung reflektieren die beiden vitalen jüdischen Frauen die 40-jährige Geschichte ihrer Freundschaft und wie aus dieser Liebe wurde. Beide verheiratete Mütter entdeckten nach langjähriger Freundschaft 1974 die Liebe zueinander. Sie verließen ihre Familien und erlebten die Ignoranz und Verachtung ihrer Umgebung. Von der schmerzlichen Auseinandersetzung mit der eigenen Homophobie erzählt Ruthie, und man sieht ihre Liebe zu Connie in ihren Augen, wenn sie berichtet, wie ihr Connie beim „Coming out of the Closet“ geholfen hat. Ihr persönlicher Kampf um die Akzeptanz ihrer lesbischen Lebensweise wurde zum Antrieb ihres politischen Engagements. Denn es geht um mehr als um ihr persönliches Glück und ihre individuelle Liebesgeschichte. So riefen sie Selbsterfahrungsgruppen für ältere Lesben und für Angehörige von Homosexuellen ins Leben und machten mit dieser politischen Arbeit vielen Menschen Mut. Ihren Kampf um die Gleichstellung homosexueller Lebensgemeinschaften und ihre Liebe füreinander feiern sie mit einer religiösen Zeremonie. Die Rabbinerin einer homosexuellen jüdischen Gemeinde in New York steht dem Ritus vor. Politischer Kampf, Spiritualität und Leben werden eins. In Berlin wurden Ruthie und Connie mit frenetischem Applaus begrüsst.

Ästhetisch anspruchsvoll und politisch mutig ist auch Li Yu’s an der Zensur vorbei gedrehter Jin Nian Xia Tian (Fish and Elephant) (Forum). Orientiert am neuen innovativen Kino, das den Spielfilmen dokumentarische Züge verleiht, thematisiert die junge chinesische Regisseurin als erste lesbische Liebe und sexuellen Missbrauch in China.

Die Tendenz zum Dokumentarischen

Es scheint eine gute Zeit für den Dokumentarfilm zu sein. Aber sowohl SpielfilmregisseurInnen als auch DokumentarfilmerInnen stellen sich zunehmend die entscheidende Frage, wie sich mit den Mitteln der Künstlichkeit – und Film ist immer künstlich – Realitäten darstellen lassen.

So thematisieren Andreas Hoessli und Isabella Huser in ihrem anspruchsvollen Essayfilm Epoca explizit die philosophische Frage, was Geschichte wird, was in die Erinnerung eingeht und was eine Epoche prägt. Wie also wird Geschichte gemacht? Bilder, Dokumente, Texte prallen aufeinander, verschachteln sich und bilden so etwas wie einen Geschichts(en)teppich. Man darf den Bildern nicht trauen und der Inszenierung nicht glauben, so das uneingeschränkte Credo der beiden RegisseurInnen. Damit erteilen die beiden SchweizerInnen dem „Authentischen“ eine klare Absage: Die authentische Geschichtsschreibung gibt es nicht und kann es nicht geben. Das Aufgeben des Anspruchs nach historischer Authentizität bedeutet aber gerade nicht Beliebigkeit. Im Gegenteil. Durch die bewusste und inszenierte Neukomposition diverser heterogener Fragmente – Bilder der Entstehungsgeschichte der Atombombe, Militärprozesse, Entdeckung des Todeslagers Majdanek, Interview mit einem Heckenschützen im Jugoslawienkrieg – entsteht eine neue Darstellung, ein neuer Blick auf so etwas wie Geschichte. Mit wenigen Bildern und mit noch weniger Worten zeigt so Epoca sowohl die Geschichtsklitterung der Sowjets („Eingemeindung“ der jüdischen Opfer der Shoah in das Opfer der antifaschistischen Kämpfer Russlands), als auch die des Westens (Atombombe). Solche Filme suchen keine Antworten, sondern Fragen, und sie fordern die KinobesucherInnen zur aktiven Mitarbeit auf.

Noch konsequenter weigert sich Claude Lanzmann, einen Unterschied zwischen Spiel- und Dokumentarfilm zu machen. Solche Unterscheidungen machten ihn nervös, sagte er im Gespräch. Vielleicht ist es gerade dieses Bewusstsein des inszenatorischen Charakters jeden Films, das ihn vor den Filmen und den Filmern (bisher tatsächlich alles Männer) der Shoah Foundation auszeichnet. Denn während er um die Inszenierung weiss, beschwört die Shoah Foundation mit ihren Filmen Authentizität und verrät gerade darin die Opfer.

Die filmische Präsenz der Shoah im 57. Jahr ihrer Geschichtlichkeit

Wie meistens bei der Berlinale kommen eine Reihe von Filmen zu Nationalsozialismus und Shoah zur Aufführung. Als besonders interessant erwies sich in diesem Jahr das Aufeinandertreffen zweier unterschiedlicher Ansätze und Vorgehensweisen. Auf der einen Seite Claude Lanzmann und auf der anderen Seite die Shoah Foundation. Beginnen wir mit Lanzmanns Sobibor, 14. Octobre 1943, 16 Heures (Forum). Noch ehe der formal viergliedrige Film beginnt, hören wir über den Credits aus dem Off Yehuda Lerner, wie er Lanzmanns Frage, ob er getötet habe, bejaht. Der Interviewer beharrt auf dem Thema und will wissen, ob der interviewte schon vor oder nach dem 14. Oktober 1943 getötet habe. „Lo, nie, nein“ die Antwort. Später werden wir diesen Interviewausschnitt noch einmal hören, eingebunden in die chronologische Erzählung über den geglückten Aufstand im Vernichtungslager Sobibor. Nach einer von Lanzmann selbst gelesenen Texttafel über die Bedingungen unter denen das, was man gleich sehen wird, realisiert wurden, und über die Stellung dieses Films in Lanzmanns Gesamtwerk, sehen wir Bilder des modernen Warschau und Minsk, Waldlandschaften und ins Unendliche gleitende Bahngeleise. Die Kamera fährt diese Landschaften ab, Orte der Vernichtung, deren Geschichte nicht mehr sichtbar ist. Sie wird erst wach und anwesend gehalten durch die Stimme Yehuda Lerners. Es sind nicht die Orte, die sprechen, sondern ausschließlich die Menschen.

Während wir die Bilder der Orte und der Landschaften sehen, hören wir, dass Lerner 17 Jahre alt und bereits aus acht Konzentrationslagern ausgebrochen war, als er im September 1943 zusammen mit jüdischen Kriegsgefangenen nach Sobibor deportiert wurde. Selbst an diesem Ort, an dem man nicht blieb, sondern innerhalb weniger Stunden in den Gaskammern ermordet wurde, gelang es ihm, am Leben zu bleiben. Mit dem Beginn der Erzählung des Aufstandes von Sobibor kommt Lerner zum ersten Mal ins Bild und bleibt während dieser ganzen Erzählung sichtbar. Es entbehrt nicht der Komik, dass das Gelingen des Aufstandes sich ausgerechnet der buchstäblichen preussischen Pünktlichkeitdes deutschen SS-Personals verdankte. Mit bloßen Äxten töteten die Häftlinge im Fünf-Minuten-Abstand 11 SS-Offiziere am 14. Oktober 1943 im Lager von Sobibor. 15.55 Uhr der erste, um 16.00 Uhr war Lerner an der Reihe – der Zeitplan war der entscheidende Faktor. Und immer wieder fährt Lerner an dieser Stelle des Interviews mit der Hand von oben nach unten, er lacht dabei. Als ob er mit der Gestik und Mimik versucht, das Grauen jener Zeit und seiner Tat wegzuschlagen und wegzulachen.

Lanzmann hatte diese Interview ursprünglich vor 17 Jahren für seinen Film Shoah gedreht. Shoah jedoch war ein Film über das Sterben, Sobibor dagegen ist ein Film über den Kampf und das Leben. Damit nicht der falsche Eindruck eines Erfolgs, einer Heldengeschichte zurückbleibt – denn in der Shoah kann es kein Happy End geben – endet Lanzmanns Film nicht mit der Befreiung von Sobibor. Sondern mit einer Litanei. Mit sonorer Stimme verliest Lanzmann in diesem vierten Teil des Films die Deportationslisten, die minutenlang über die Leinwand laufen und Aufschluss darüber geben, aus welchen Orten Transporte mit 100, 500, 10.000, 20.000 Menschen in die Todeslager gingen. Jeweils ein Ort und eine Zahl. Der einzelne Ort, die einzelne Zahl sagt mehr, als die Gesamtziffer, dass mehr als 250.000 Menschen in Sobibor ermordet wurden. Dieser Schluss ist für das Kino eine Zumutung, aber zugleich auch ein angemessener Akt des Gedenkens, eine beeindruckende filmische Form des Gedenkens. Während der gesamten Filmlänge von 95 Minuten verzichtet Lanzmann auf eine musikalische Untermalung. Er weiß zwar um die Inszenierung seines Films, aber er vertraut auch dem Zeugnis seines Zeitzeugen und der Empathiefähigkeit des Publikums.

In der Diskussion zeigte sich, dass Lanzmann ein wenig über uns ZuschauerInnen enttäuscht war, „Sie haben ja gar nicht so viel gelacht“ beginnt er das Gespräch nach dem Film.[8] Doch so normal scheint Deutschland noch nicht zu sein, dass man unbefangen über die komischen Seiten und Aspekte eines Konzentrationslagers lachen könnte, lachen dürfte.

Genau diese von Lanzmann erwünschte Unbefangenheit scheinen die VertreterInnen der Shoah Foundation abzulehnen. Aber was noch schlimmer wiegt, ist das Misstrauen der Foundation gegenüber der Wirkkraft der Zeugenaussagen. So heißt es in den Produktionsmitteilungen zum ersten der fünf von der Shoah Foundation in Auftrag gegebenen Filme, Children from the Abyss (Forum), Pawel Tschuchraj zeichne „in dramatischen Details die Erinnerungen von Kindern nach, die Zeugen der Exekution ihrer gesamten Familie geworden waren: Ihre grauenvolle Angst davor, erschossen zu werden und die Erfahrung, aus einem Massengrab zu klettern und sich in von Nazis besetzte Gebiete zu schlagen“.[9] Aber genau diese Dramatisierung der an sich bewegenden Zeugnisse verkitscht und sentimentalisiert die Interviews der Überlebenden. Die schmalzige Kommentarstimme und die permanent Gefühle evozierende musikalische Untermalung der Bilder beleidigt die Zeugen und nicht zuletzt auch die ZuschauerInnen: ihnen wird mit einer solchen Filmdramaturgie unterstellt, sie würden nicht durch die Zeugenberichte, sondern nur mit Hilfe nachträglicher Sentimentalisierung berührt.

Ästhetisch und politisch bedenklicher noch ist der zweite Shoah Foundation- Film, I Remember (Forum) von Andrej Wajda. Ohne auch nur ansatzweise den March of the Living, eine regelmäßig stattfindende Exkursion Jugendlicher verschiedenster Nationalität an die Orte der Vernichtung in Polen, zu befragen, überschneidet Wajda die Porträts der interviewten Überlebenden mit Aufnahmen dieses Marsches. Die weichen, emotionalisierenden Überblendungen sind die ersten politischen und ästhetischen Vergehen dieses Films. Der Höhepunkt des politisch Bedenklichen jedoch ist erreicht mit den Bildern des Papstes an der Klagemauer in Jerusalem. Als Symbol der Versöhnung mag Wajda diese Bilder werten wollen, als Eingemeindung der jüdischen Opfer unter die katholischen Polen aber kommen sie an.

Wie sehnte ich mir nach diesen beiden Shoah Foundation Filmen die Zeit der einfachen talking heads zurück!

Als Ausblick darauf, dass die Fähigkeit einer gehaltvollen Gestaltung auch jenseits von Lanzmann zu finden ist, sei der herausragende Film Atlantic Drift (Forum) des Franzosen Michel Daeron erwähnt. „Dear Hannah…“ mit diesem Briefanfang beginnt der Film. Dem Brief liegt das Tagebuch der 17jährigen Ruth Sanders bei. Dieses dient dem Filmemacher als roter Faden, die Geschichte einer traumatischen Emigration zu erzählen. Zwischen 1941 und ‚45 wurden mitteleuropäische Juden, die in letzter Minute den Nazis entkommen waren, vom britischen Militär nach Mauritius gebracht. Ihre Hoffnung auf das gelobte Land endete im Staatsgefängnis von Mauritius, und ihr Traum eines Neubeginns in Palästina wurde zum Albtraum. Unter ihnen war auch Hannah. Mit ihrem Sohn Schlomo und mit Ruths Tagebuch von damals unternimmt die alte Frau noch einmal die Reise nach Mauritius. Sie besucht jenes Gefängnis, in dem sich ihr Mann – Fritz Händel, ein Maler – nicht ahnend, dass er Vater werden sollte, das Leben genommen hatte. Der Sohn begleitet seine Mutter und sucht zugleich doch selbst nach der Geschichte seines Vaters. Zeichnungen und Aquarelle, das einzige, was er von seinem Vater hat, helfen ihm bei seiner Suche. Dem ästhetisch höchst anspruchsvollen Film – er ist durch eine komplexe und künstlerisch durchdachte Bild-, Text- und Ton-Collage strukturiert – gelingt über das Aufzeichnen der persönlichen Schicksale dieser drei Menschen (Ruth, Hannah und Schlomo) hinaus eine Intensität und ein Blick auf das Schicksal von Flucht und Deportation im Allgemeinen. Dieser humanistische Impetus hebt den Film aus dem Genre der Erinnerungsdokumentationen hinaus und macht ihn zu einem aktuellen Zeugnis. Denn Flüchtlinge gibt es noch immer und überall, und das macht der Film bewusst.

Teenies erobern die Leinwand

Nach der Welle der Komödien haben nun vornehmlich Absolventen (es sind mehrheitlich die Männer unter ihnen) der Filmhochschulen die Jugend entdeckt. So übervölkerten in mehreren Beiträgen, die ich mir aber allesamt erspart habe, pubertierende Jungs, die sich schwer tun mit ihren Gefühlen und mit dem ‚ersten Mal‘, die Leinwand. Es wäre sicher interessant zu analysieren, warum es in diesen Teeniefilmen vor allem um das Erwachsenwerden der Jungs geht. Doch das überlasse ich gerne anderen. Lieber verweise ich zum Abschluss auf einen französischen Beitrag, eine Jungsgeschichte zwar, aber eine, die neben dem Erwachsenwerden vor allem die politisch bedeutsame soziale Frage nach der Integration ausländischer Jugendlicher stellt.

Wesh, Wesh, qu’est-ce qui se passe? (Wesh, Wesh, was geht hier ab?) (Forum) von Rabah Ameur Zaimeche. Obwohl ein Spielfilm, war das für mich das authentischste Protokoll der diesjährigen Berlinale. Ohne Sensationslust, aber mit Genauigkeit und Zartgefühl zeichnet Zaimeche in seinem Debutfilm die hoffnungslose Lebenssituation und die Ratlosigkeit jugendlicher Emigranten auf. Dieser Film, in dem die Darsteller der dargestellten Bevölkerung entstammen, ist aktuell wie kein anderer Film. Denn was bedeutet schon Integration in einer Gesellschaft, in der jeder noch so kleine Einwanderer verdächtig ist, und in der das Fremde immer fremd bleibt? Bei keinem anderen Film habe ich plötzlich Alexander Kluges Aussage so gut verstanden, das Motiv für Realismus sei nie Bestätigung der Wirklichkeit, sondern Protest. Wenn ich mich das nächste Mal über die arabischen Jungs an der Ecke aufrege, werde ich hoffentlich an Zaimeches Wesh, Wesh, was geht hier ab? denken….

Während in der Nähe des Nordpols die Frau aus dem Stamm der Nenets das Wasser über die Leinwand trägt, suchen am anderen Ende der Welt, im südlichsten Zipfel Chiles in der Nähe des Südpols, in La Ultima Huella (Die letzte Spur) (Forum) von Paola Castillo, zwei alte Schwestern nach einem Pigment. Dieses wurde in früheren Zeiten vom indianischen Volksstamm der Yaganes für rituelle Zwecke benutzt. Das von der neuen Berlinale-Leitung zum Motto erhobene „Accept Diversity“ scheint, wie diese beiden Filme an den gegensätzlichen Polen unserer Erde nahelegen, tatsächlich die gesamte Welt zu umspannen.

Gegen Ende des Films sehen wir, wie die eine Yagana an einer Flusslandschaft, allein auf ihre Erinnerung gestellt, an verschiedenen Schlammstellen nach dem einen roten Pigment sucht. Auf den Stock gestützt, stapft sie durch die unwirtliche und einsame Landschaft. Sie ist ganz allein im Bild. Und in diesem Bild wird deutlich, dass das Wissen und die Geschichte bereits verloren sind. Dass die alte Frau die Farbe zu ihrer eigenen Überraschung findet, tröstet nicht wirklich. Denn wenn die beiden Schwestern nicht mehr sein werden, wird das Volk der Yaganes ausgestorben sein. Das Pigment und der Film werden dann tatsächlich die letzte Spur sein. Aber das ist vielleicht das Beste, was Film überhaupt sein kann: Spur des Lebens.

Anmerkungen

[1]: Katja Nicodemus, Monster auf dem Weg zum Selbst, ZEIT 21.02.02.

[2]: Kinostart in Deutschland am 28.02.02, Infos zum Film unter: www.hyenafilms.com.

[3]: Genauere Informationen zum Projekt unter: www.projetouere.org.br.

[4]: Informationen zum Film: www.meinkleineskind.de.

[5]: Die Videoausgabe dieses Films ist im Buchhandel (ISBN: 3–00–007961–0) oder unter folgender Adresse zu beziehen www.viktoria11.de.

[6]: Webseite zum Film www.chaos-lefilm.com/index2.htm.

[7]: Die wunderschön gestaltete Webseite zum Film: www.8femmes-lefilm.com.

[8]: Denn in Frankreich verglichen die FilmkritikerInnen seinen neuen Film durchaus mit Chaplins DER GROSSE DIKTATOR und mit Lubitschs SEIN ODER NICHT SEIN.

[9]: 32. Internationales Forum des jungen Films, Katalog, S. 202.

URN urn:nbn:de:0114-qn031215

Dr. Maria Marchetta

Berlin

E-Mail: kroma.frieda@gmx.net

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