Die Künstlerin als Arbeiterin (an) der Gesellschaft. Lu Märtens zeitgemässe Betrachtungen zur Ökonomie der namenlosen Genialität

Rezension von Verena Kuni

Lu Märten:

Die Künstlerin.

Eine Monographie.

Bielefeld: Aisthesis 2001.

156 Seiten, ISBN 3–89528–298–7, € 14,50

Abstract: In einem Reprint der Originalausgabe von 1919 endlich wieder zugänglich gemacht, empfiehlt sich Lu Märtens kleine Schrift Die Künstlerin nicht nur als Beitrag zur Vor- und Frühgeschichte der feministischen Kunstwissenschaft. Als historisch-kritische Analyse der Ökonomie künstlerischer Arbeit unter besonderer Berücksichtigung der Geschlechterdifferenz kann das Büchlein auch für aktuelle Debatten wichtige Denkanstösse liefern.

Was ist eine Künstlerin?

„Was ist ein Künstler?“ fragte im November 2001 ein Symposium an der Evangelischen Akademie Lokkum. In jedem Fall: Ein Gegenstand mit Streitwert. Während der Grossausstellungsbetrieb nach wie vor von jener Geniereligion zehrt, die seit Vasaris Zeiten die Szene beherrscht, sind in den vergangenen Jahren zahlreiche Publikationen erschienen, die jene Legendenbildungen um die „Meisterschaft des Grossen Einzelnen“ analysieren und das Bild des „bedeutenden Künstlers“ als Produkt kunstgeschichtlicher Kanonisierung kritisch hinterfragen.[1] Künstlerinnen spielen in diesen Publikationen jedoch in der Regel eine untergeordnete Rolle. Zwar hat der der Kulturbetrieb mittlerweile Wege gefunden, als – nicht notwendigerweise gleichwertiges – „Sondermodell“ auch die bedeutende Einzelkünstlerin berücksichtigen zu können. Und wie etwa das Beispiel der Schweizer Videokünstlerin Pippotti Rist zeigt, müssen Künstlerinnen mittlerweile auch nicht mehr – wie Louise Bourgois – ihren Sechzigsten gefeiert haben oder gar – wie Frida Kahlo oder Eva Hesse – tot sein, um als „Meisterinnen“ ihres Metiers gefeiert zu werden.

Gleichwohl können wir davon ausgehen, dass künstlerische Karrieren noch immer nicht unabhängig von der Kategorie Geschlecht verlaufen bzw. Erfolgsmodelle für Künstlerinnen anderen Gesetzmäßigkeiten unterliegen als diejenigen ihrer männlichen Kollegen. Dementsprechend besitzen viele der Fragen, die Linda Nochlin bereits 1971 in ihrem vielzitierten Aufsatz Why Have There Been No Great Women Artists? diskutierte, bis heute Aktualität.[2]

Nochlin zeigte, dass „wir hinter der Frage der Frau als Künstlerin“ quasi automatisch „auf den Mythos des Großen Künstlers (Gegenstand zahlloser Monographien, einzigartig, gottgleich)“ stossen, „der von der Geburt an eine geheimnisvolle Essenz in sich trägt […], Genie oder Talent geheißen, das, wie ein Mord, unter allen Umständen ans Licht gebracht werden muß.“ (Nochlin 1996, S. 35) Und sie schloss: „Werden die richtigen Fragen über die Bedingungen der Kunstproduktion gestellt […], dann wird man zweifellos über die situativen Begleitumstände von Intelligenz und Talent im allgemeinen und nicht nur über das künstlerische Genie sprechen müssen.“ (Nochlin 1996, S. 39) Folglich könne es einer kritischen Kunstwissenschaft nicht nur darum gehen, nach möglicherweise verlorenen Spuren „weiblicher Meisterschaft“ zu suchen. Vielmehr müssten die Gründe für die blinden Flecken der Institutionen unter anderem in einem gesellschaftlichen Kontext zu finden sein, der nicht nur weibliche Leistungen anders bewertet, sondern in dem Künstlerinnen von vornherein auf andere Ausbildungs- Produktions- und Rezeptionsbedingungen stoßen als ihre männlichen Kollegen.

Während es insbesondere Ansätzen aus dem Umfeld der feministischen Kunstgeschichte und den kulturwissenschaftlichen Gender Studies vorbehalten blieb, auf alte und neue Lücken in diesem Forschungsfeld hinzuweisen, würde man sich wünschen, Renate Bergers 1982 publizierte Studie zur Sozialgeschichte bildender Künstlerinnen – deren Fokus auf der Wende zum 20. Jahrhundert lag – bis in die aktuelle Gegenwart fortgeschrieben zu sehen.

Wiederentdeckung einer Klassikerin

Anregen könnte dazu eine mittlerweile historische Publikation, die jetzt dankenswerterweise in einem Reprint wieder zugänglich ist: Lu Märtens 1919 in erster (und bis dato einziger) Auflage erschienene Schrift Die Künstlerin. Sie scheint – wie die Herausgeberin und Märten-Biographin Chryssoula Kambas in ihrem Nachwort bemerkt – bereits die erste Generation feministischer Kunsthistorikerinnen so sehr inspiriert zu haben, dass das schmale Büchlein bereits Ende der achtziger Jahre in den meisten öffentlichen Bibliotheken (im wörtlichen Sinn) vergriffen war. Zwar ist Märtens Name – zumindest unter feministisch orientierten Kunstwissenschaftlerinnen – gerade mit diesem Titel eng verbunden. Und seit 1987 gibt es den „Lu Märten-Verein für Frauenforschung in Kunst und Kulturwissenschaften“. Gleichwohl dürfte die mangelnde Zugänglichkeit von Märtens Schrift erheblich dazu beigetragen haben, dass die Thesen der Autorin verschwindend selten diskutiert werden. „Wenn Lu Märten [….] heute noch bekannt ist, dann vor allem dank der Überlieferung der sozialistischen Literatur sowie der Aufarbeitung der politschen Kunst–Debatten der Weimarer Republik.“ (S. 113)

Zur Überwindung dieses Mangels kann die Neuherausgabe der Künstlerin sicherlich einen wichtigen Beitrag leisten. Als fruchtbare Lektüre erweist sich das Bändchen allerdings nicht nur für jene, die sich für die Vor- und Frühgeschichte der feministischen Kunstwissenschaft interessieren.

Beruf: Künstlerin

„Ich betone, daß ich mich absichtlich hier nicht mehr auf die Frage oder Behauptung einlasse, ob die Frauen jemals zu Kunsttaten – Genialität, usw. fähig seien, oder nicht. Ich setze vielmehr voraus, daß sie es sind, und untersuche die Hemmungen dieser geistigen und sozialen Expansion – des genialen Seins.“ (S. 10) Was Märten bereits im ersten, 1914 verfassten Vorwort zur Künstlerin klarstellt, ist Programm und spiegelt sich deutlich nicht nur in der Argumentation, sondern auch im Aufbau ihres Buches wider. Als sozialpolitisch interessierte und bereits in jungen Jahren in der sozialdemokratisch orientierten Frauenbewegung engagierte Schriftstellerin konzentriert sie sich auf die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Frau als Künstlerin und bettet diese in eine Analyse der historischen und gesellschaftlichen Voraussetzungen ein.

Dementsprechend ist Märtens Ansatzpunkt nicht die auf die Herstellung des Genies zielende Künstlerbiographik in ihrer von den Meisterschaftserzählungen der Kunstgeschichte so lange favorisierten Form. Vielmehr widmet sie bereits das erste Kapitel ihrer Schrift der „Entwicklung und Differentiation der Frauenarbeit als gesellschaftliche.“ (S. 5) Hier zeigt sie auf, wie diese durch ihre Herabqualifizierung gegenüber männlicher Arbeit und durch die generelle Nichtanerkennung der gesellschaftlichen Reproduktionstätigkeiten in Haushalt und Familie als „Arbeit“ auf zweifache Weise diskriminiert wird. Dabei analysiert und kritisiert Märten zwar die kapitalistische Formierung des Arbeitsprozesses, in der Arbeitskraft zur Ware wird, als einen treibenden Faktor dieser Entwicklung. Gleichzeitig jedoch erkennt sie im zeitgenössischen Stadium dieses Prozesses – ähnlich wie bald ein Jahrhundert später Donna Haraway in ihrem Manifesto for Cyborgs – einen Mangelzustand, der nicht nur beide Geschlechter gleichermassen betrifft, sondern aus dem sich auch Argumente für eine Neubewertung der diskriminierten „weiblichen“ Arbeit gewinnen lassen. So hält sie fest, dass der Kapitalismus „die gesellschaftliche Frauenarbeit unter bestimmten Voraussetzungen auch will […]“ und insofern „[…] dennoch eine Revolution der Frauenkräfte erbracht hat, wie sie aus der isoliert gewordenen Funktion der Frau in Ehe und Familie bis dahin niemals möglich war. […] Das Ja-sagen zu einer Wandlung, die die Frau in einen gesellschaftlich differenzierenden Arbeitsprozeß, gleich dem des Mannes zieht, ist zugleich das Bewußtwerden der Inkonsequenzen und Hemmungen der alten Gesellschaft, ihrem privatwirtschaftlichen Egoismus gegenüber.“ (S. 20) Allerdings lässt sie auch keinen Zweifel daran, dass diese Situation in der gesellschaftlichen Realität nicht zu einer angemessenen Anerkennung und Förderung weiblicher Potentiale führt, sondern zu einer stärkeren Belastung all derjenigen Frauen, die einer Berufstätigkeit nachgehen wollen – und insbesondere derjenigen, die eine schöpferischen Tätigkeit zu ihrem Beruf machen wollen: „Die spezifische Belastung der Frau, die als Künstlerin oder Schaffende irgendeines Grades oder einer Art, ihre Gesamtkraft in der Hauptsache zu konzentrieren hätte, entsteht darin, daß der hochkapitalistischen Wirtschafts- und Arbeitsform keine entsprechende Organisation des privaten Lebens folgte; des privaten Lebens, das auf der einseitigen Funktion und Inanspruchnahme der Frauenkraft eigentlich aufgebaut und möglich war.“ (S. 21) Zusätzlich zu den Ursachen dieser noch von der Frauenbewegung der siebziger Jahre vehement bekämpften, aber bis heute nicht gelösten Problematik, die Märten klar beim Namen nennt – „Mittelalterliche Einzel- und Familienwirtschaft, Ansprüche des privaten Egoismus daraus; Rechtlosigkeit; politisches Ignorieren; mittelalterliche Sittenwertung“ (S. 21 f.) – hat gerade die Künstlerin mit einem Mißstand besonders zu ringen: „Was aber vor allem noch ganz und gar fehlt, ist die selbstverständliche gesellschaftliche Anerkennung der Frau als geistig oder schöpferisch tätige Energie.“ (S. 25)

Um diese Anerkennung einzufordern, begnügt sich Märten jedoch keineswegs mit dem Verweis auf die gesellschaftlich und historisch begründeten Hemmnisse, die Frauen in der Entwicklung ihrer schöpferischen Potentiale oder in der Ausübung einer künstlerischen Tätigkeit entgegenstehen.

Noch weniger lässt sie sich auf die – später erst von Linda Nochlin wieder kritisch aufgegriffene – Frage nach einem weiblichen Goethe, Beethoven, Michelangelo, Rembrandt oder van Gogh ein. Weitaus radikaler – fordert sie die auf das männliche Geschlecht fixierte Definition des Genius und der Genialität selbst heraus, wenn sie konstatiert, „daß das Leben der Frauen vielfach eine verborgene, sozial latente Künstlerschaft ist.“ (S. 35) Über diese „namenlose Genialität der Frau“ sei bis heute weder theoretisch noch allgemein erkenntniskritisch geredet oder gedacht worden.

Mithin argumentiert Märten nicht nur in ihrer Kritik der gesellschaftlichen Verhältnisse, sondern auch dort, wo sie eine Korrektur des herrschenden Blicks einfordert, mit Geschlechterdifferenz. Allerdings begründet sie diese nicht biologistisch, sondern mit Verweis auf die sozialen, ökonomischen und politischen Zusammenhänge, in denen Geschlecht und Arbeit – für sich genommen wie auch im Verhältnis zueinander – situiert, definiert und bewertet werden. Eben das macht nicht nur die Stichhaltigkeit ihrer Thesen im Bezug auf ihren historischen Kontext, sondern letztlich auch ihre Brauchbarkeit, um nicht zu sagen: Brisanz für aktuelle Debatten aus.

Die Künstlerin als Arbeiterin (an) der Gesellschaft

Auch in den folgenden Kapiteln ihrer Schrift bettet Märten die Probleme, mit denen Künstlerinnen im Hinblick auf eine professionelle Kunstausübung bzw. -ausbildung sowie auf die Vereinbarkeit von Beruf und Familie konfrontiert werden, immer wieder in eine übergreifende gesellschaftliche Perspektive ein.

Dabei hebt sie unmissverständlich hervor, unter welch ungleichen Voraussetzungen sich die beiden Geschlechter in den wirtschaftlichen Existenzkampf begeben, und sie weiß nicht nur beredt zu belegen, wie sich „die sozialen allgemeinen Hemmungen […] auch als private in der Umwelt der Frau widerspiegeln“ (S. 55), sondern , wie die Institution der Ehe und Familie zusätzlich zur manifesten Doppelbelastung durch Haus- und Erwerbsarbeit auf der ideologischen Ebene zum Ausschluss der Frau von allen schöpferischen Tätigkeiten bzw. deren gesellschaftlicher Anerkennung beizutragen vermögen.

Darüberhinaus versteht Märten ihre kritischen Analysen zugleich als Ausgangspunkte für den Entwurf von Gegenmodellen, die sie – wo möglich – mit konkreten Beispielen zu belegen versucht, um die emanzipatorischen Errungenschaften einer Durchsetzung gegenüber diesen widrigen Verhältnissen nicht nur als Teilerfolge auf dem Feld der Frauenrechte zu werten, sondern wiederum als zukunftsweisend für die Gesellschaft insgesamt herauszustellen.

Überdeutlich wird dies in den beiden abschließenden Kapiteln der Künstlerin. Hier argumentiert Märten noch einmal mit Verve für die gesellschaftliche Bestimmung und Verpflichtung der Kunst. Diese Haltung führt sie zu einer klaren Abrechnung mit der auch in den zeitgenössischen künstlerischen Avantgarden vielfach noch unhinterfragten Geniereligion: „Das Wesen und die Disziplin seiner Kunstmöglichkeit aber durch ‚göttliche Offenbarungen’ bestimmen lassen, heißt sich auf dem Gebiet des Unerforschlichen tummeln, […] heißt dem Erforschlichen gegenüber, dem Anspruch des Lebens, Götzen, statt Brot – Götter geben. […] Auch diese Kunstarten, die in unsrer Zeit viel Verteidigung für sich als allerneueste Kunstart erbringen, können, soweit man sie als ehrlich nimmt, ihre Erklärung erhalten durch die extreme Isolierung der Kunstleistungen und der Künstler überhaupt, als eine Kunst der Selbstbefriedigung und Selbstschöpfung, die damit alles vorwegnimmt und diktiert, was das Kunstwerk dem Schauenden selbst überlassen sollte.“ (S. 90 f.)

Demgegenüber sieht Märten die Zukunft der Kunst und der Kunstschaffenden als Arbeit am und im Gesellschaftsprozess, an dem Frauen als Künstlerinnen ebenso wie als tätige Mitglieder der Gesellschaft bereits zu ihrer Zeit einen wichtigen Anteil haben. Und sie schliesst: „Alle Probleme der heutigen Frau als Künstlerin und Arbeiterin sind gesellschaftliche Probleme, darum erfordern sie allein gesellschaftliche Lösungen – alles andere von ‚Natur‘ und ‚Bestimmung‘ usw. ist Wortgeschwätz.“ (S. 106) Dass sich solches „Wortgeschwätz“ – und sei es im Zuge zeitgenössischer (Nach-)Erzählungen der Legende vom Künstler, wie sie mitunter auch Künstlerinnen angedichtet werden – bisweilen bis heute in Texte zur Kunst verirrt, mag man als bedauerlich, ärgerlich oder vielleicht sogar als amüsant empfinden. Wesentlich brisanter ist zweifellos die Kontinuität der gesellschaftlichen und ökonomischen Bedingungsgefüge, in denen sich das Spannungsverhältnis zwischen künstlerischer Arbeit und Geschlecht situiert. Ungeachtet der historischen Eingebundenheit des Textes in seine Entstehungszeit besitzen nicht wenige der Analysen und Argumente, die Lu Märten in ihrer Streitschrift für die gesellschaftliche Anerkennung der Künstlerin formuliert, nachmalige und, insbesondere mit Blick auf die postfordistische Ökonomie der immateriellen Arbeit, durchaus auch neuerliche Aktualität. Ob als Wiederentdeckung eines historischen Beitrags auf dem Weg zu einer kritischen Kunstwissenschaft, als feministische Kunstgeschichte avant la lettre oder als Denkanstoss für aktuelle Debatten: Gewinnbringend und daher empfehlenswert ist die Lektüre des schmalen, aber dennoch (ge-)wichtigen Bändchens in jedem Fall.

Anmerkungen

[1]: Vgl. u.a. Oskar Bätschmann: Ausstellungskünstler. Kult und Karriere im modernen Kunstsystem. Köln: Dumont 1997. Pierre Bourdieu: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1999.

[2]: Linda Nochlin: Why Have There Been No Great Women Artists? (1971). In: dies.: Women, Art, and Power and Other Essays. New York: Harper and Row 1988, S. 145–178. Deutsch: Warum hat es keine bedeutenden Künstlerinnen gegeben? In: Beate Söntgen (Hg.): Rahmenwechsel. Kunstgeschichte als feministische Kulturwissenschaft. Berlin: Akademie Verlag 1996, S. 27–56.

URN urn:nbn:de:0114-qn031117

Verena Kuni M.A.

FB III/Kunstgeschichte, Universität Trier,

E-Mail: kuni@uni-trier.de

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