Hypochonder der Liebe: Männlichkeitskonstruktionen bei Arthur Schnitzler

Rezension von Mechthilde Vahsen

Jenneke A. Oosterhoff:

„Die Männer sind infam, solang sie Männer sind“.

Konstruktionen der Männlichkeit in den Werken Arthur Schnitzlers.

Tübingen: Stauffenburg 2000.

249 Seiten, ISBN 3–86057–153–2, DM 68,00 / SFr 62,00 / ÖS 496,00

Abstract: Die Dissertation von Jenneke A. Oosterhoff untersucht die Konstruktion von Männlichkeit und die Darstellung männlicher Sexualität im Werk von Arthur Schnitzler. Vor dem Hintergrund biographischen Materials und unter Einbeziehung interdisziplinärer Studien zur Jahrhundertwende und zum Fin de Siècle werden Konflikte und Probleme im männlichen Identitätsdiskurs aufgezeigt, die auf die existentiellen Wandlungen der Zeit zurückzuführen sind.

Die vorliegende Dissertation von Jenneke A. Oosterhoff, in den USA entstanden, widmet sich der Frage, wie Arthur Schnitzler in seinem Gesamtwerk Männlichkeit und männliche Sexualität konstruiert und darstellt. Mit diesem Ansatz, der sich auf US-amerikanische Forschungen der men’s studies bezieht, werden erstmals Schnitzlers Männerfiguren gattungsübergreifend dahingehend untersucht, inwiefern sie Produkte einer historischen Männlichkeitsvorstellung sind, an welcher Autor und Gesellschaft ihren Anteil haben. Damit wird auch die Frage aufgeworfen, auf welche Weise diese Männerfiguren die literarisch dargestellten Geschlechterkonflikte beeinflussen und darüber hinaus auch Formen weiblicher Sexualität.

Ausgehend von der These, dass Schnitzler sich in seinen Texten mit „moralischen Problemen privater und gesellschaftlicher Art“ (S. 3) auseinander setzte, so dass seine männlichen Protagonisten als „Endprodukte einer künstlerischen Sublimierung innerer, oft widersprüchlicher Strebungen“ (S. 3) gelesen werden können, bezieht Oosterhoff biographische, medizinische, psychoanalytische und sozio-kulturelle Studien mit ein, um ein differenziertes Bild des Fin de Siècle zu entwerfen. Maßgebend sind vor allem eine männlich geprägte (Sexual-)Moral und die in Abwehr der Frauenbewegung entworfenen frauenfeindlichen Theorien von Medizinern, Psychoanalytikern und Philosophen. Die der angelegten Analyse vorangestellte Kernthese bezieht sich auf eine typische Erscheinung der Jahrhundertwende, die sog. „verzögerte Adoleszenz bei jungen Männern“ (S. 7). Dies meint ein Phänomen, nach dem junge Männer bis in ein Alter hinein, da sie bereits erwachsen sind, auf soziale Rechte und Pflichten verzichten müssen. Aus dieser konfliktgeladenen Situation ergeben sich Generationsprobleme, die zusammen mit den politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Entwicklungen der Zeit einen Zustand hervorbringen, der nach Manfred Diersch als „Unbeständigkeit des Ichs“ (S. 11) und nach Schnitzler als „Kernlosigkeit“ (S. 10) bezeichnet wird. Auf dieser Grundlage widmet sich Oosterhoff der Analyse männlicher Protagonisten im Früh- und Spätwerk des Wiener Autors und zieht sowohl Dramen als auch Erzählungen heran.

Erotisierte Jünglinge und male bonding

Das erste Kapitel beschäftigt sich mit Adoleszenten und entwickelt am Beispiel von Fedor Denner, Anatol, Leutnant Gustl und Leutnant Willi Kasda, dass die verspätet einsetzende gesellschaftliche Anerkennung zu einem destruktiven vorehelichen Sexualverhalten führt. Dieses ist geprägt von Besitzsucht, Eifersucht, Egoismus und Bindungsangst. Gleichzeitig fungieren diese Männerfiguren als Typisierungen des „impressionistischen Menschentypus“ (S. 31), der durch seine innere Ambivalenz, die ihn in die Haltlosigkeit und Handlungsunfähigkeit drängt, charakterisiert ist. Mit diesen Auffassungen von männlicher Sexualität sind überdies rigide Vorstellungen über Frauen verbunden. Demnach müssen sie jungfräulich in die Ehe gehen, gelten als Besitz des Mannes und erhalten in Beziehungen zu Männern Objektstatus.

Das male bonding, übersetzt mit Männerverbindungen, steht im Zentrum des zweiten Kapitels. Basierend auf Ausführungen von Lionel Tiger über die zwei gängigen Formen der männlichen Sozialisierung um die Jahrhundertwende, die körperlich orientierte in Militärschulen und die intellektuelle in Gymnasien, analysiert Oosterhoff zehn Männerpaare aus Werken von Anatol bis Der Weg ins Freie. Hauptverbindung zwischen ihnen ist die Konkurrenz, sei es in der Liebe, im Beruf oder in der gesellschaftlichen Rolle als Soldat bzw. Zivilist. Sie kommt zu dem Ergebnis, dass Männlichkeiten – ein Begriff in Anlehnung an Robert W. Connell – auf homosozialer Ebene hergestellt werden, unter Ausschluss des Weiblichen (was seit Simone de Beauvoirs Das andere Geschlecht bekannt ist, worauf die Autorin im übrigen zurückgreift). Männliche Ehre wird dabei zum wichtigsten Bindeglied und zu einem elementaren Identitätsfaktor, an dem alles gemessen wird. Sie gilt es zu verteidigen, gegen Frauen und andere Männer, die Form dafür ist das Duell.

Leider fehlen in der Darstellung einige prägnante deutschsprachige Studien zu Männerbünden und Konstruktionen von Männlichkeit (zu nennen wäre Helmut Blazeks Männerbünde oder die Arbeiten von Walter Erhart) sowie zu romantischen Männerfreundschaften, was zu Verkürzungen in den Ergebnissen führt. So wird der Machtaspekt, der bei Connell eine zentrale Stelle einnimmt, nur kurz erwähnt. Auch macht die Verfasserin vereinzelt befremdliche Bemerkungen über Frauenfiguren. So heißt es z. B. über die Figur Anna aus Der Puppenspieler: „Diese Hoffnung ist etwas naiv, denn sie müßte wissen, daß Männer damals mit Frauen ‚aus zweiter Hand‘ keine ernsteren Beziehungen eingingen.“ (S. 109) Sie verdanken sich meines Erachtens dem implizit vorrangigen Interesse der Verfasserin an den Frauenfiguren Schnitzlers, das zeitweilig den Text bestimmt.

Ehe, Einsamkeit und Alter

Das dritte Kapitel geht der Frage nach, wie Schnitzler das Verhältnis der Geschlechter in seinen Eheskizzierungen aufarbeitet. Oosterhoff wählt hierfür Textbeispiele, in denen beide Geschlechter mit ihren Positionen vertreten sind. Im Rückgriff auf biographische Erfahrungen des Autors macht sie deutlich, dass die dargestellten Konflikte und Probleme auf eine gemeinsame Ursache zurückzuführen sind: Es ist den Schnitzlerschen Figuren nicht möglich, die Trennung zwischen den Rollen als Ehemann und Liebhaber bzw. Ehefrau/Mutter und Liebhaberin/Sexualobjekt aufzuheben. Dies führt zu Einsamkeit, Misstrauen und Störungen in der sprachlichen Kommunikation, umso mehr, da die Reaktionen der Männerfiguren die Frauen auf ihre traditionelle Rolle festlegen, um der Brüchigkeit der überholten Sexualmoral entgegenzutreten. Die Verfasserin kommt zu dem Schluss, dass Schnitzler seine Auffassung von der Ehe nicht wesentlich verändert habe und es keine thematische Entwicklung im Werk gebe.

Ein ähnliches Ergebnis weist auch das letzte Kapitel auf, das die Beziehungen junger und älterer Männer zum Älterwerden und zum Alter aufgreift. Analog zur Vorgehensweise in den vorangegangenen Kapiteln werden zunächst Äußerungen Schnitzlers angeführt, an die sich sozio-kulturelle Schlussfolgerungen knüpfen. In der Diskussion bleibt die deutschsprachige (literaturwissenschaftliche) Altersforschung außen vor, Oosterhoff greift stattdessen auf eine US-amerikanische Dissertation von Marion Michels zurück, die sich explizit mit dem Problem des Alters bei Schnitzler beschäftigt. Sie verwendet die dort präsentierten Ergebnisse (körperliche Zeichen, Figurenkonstellation, Altersprozeß und narrative Elemente, Selbstbetrug im Alter, Jugendsehnsucht, Zeitlichkeit) und erweitert sie um die Frage nach dem Kontext zwischen Alter und Sexualität. Es zeigt sich, dass sowohl Schnitzlers „Sterbejünglinge“ (S. 188) als auch seine „Lebegreise“ (S. 188) der Altersmelancholie unterliegen und versuchen, dem Alter und dem Tod durch erotische Abenteuer zu entkommen. Andererseits finden einige in den gesellschaftlichen Männerrollen Befriedigung und stellen sich Beruf, Ehe und Kindern. Der Grund: „Im Herbst (Alter) werden die (egoistischen) Junggesellen einsam.“ (S. 196) Muss Casanova zur Aufrechterhaltung seiner (sexuellen) Mannesehre die Jugend töten, unterliegt die Figur des Doktor Gräsler einer erotisch besetzten Alters-Selbstfindung. Die sexuelle Freiheit der Jugend, ein Ergebnis der zeitgenössischen Moral, wird im Alter wieder zum erstrebenswerten Ideal, da sie mit männlicher Identität verbunden ist. Idealisierend wird lediglich eine Männerfigur dargestellt: Herr von Aigner (Das weite Land), der Körperkraft, Tapferkeit, Rhetorik, Potenz und Handlungsfähigkeit in sich vereint. Obwohl er in der Liebe mit traditionellen Auffassungen konform geht, was Oosterhoff an der Bewertung ‚moderner Mann‘ zweifeln lässt, grenzt er sich durch diese positiven Charakteristika von anderen Männerfiguren ab.

Insgesamt zeugt die Dissertation von solider und intensiver Textarbeit, biographisches und sozio-kulturelles Material sowie interdisziplinäre Anleihen ergänzen die Fragestellung auf produktive Weise. Nur manchmal stört die subtile Kritik der Verfasserin an Schnitzlers literarischem Frauenbild ebenso wie der an einigen Stellen ins Umgangssprachliche fallende Stil. Die vergleichende Analyse der Männerfiguren im Früh- und Spätwerk und deren Vernetzungen mit männlichen Lebensstadien ist ein guter Beitrag zu den men‘s studies.

URN urn:nbn:de:0114-qn023227

Dr. Mechthilde Vahsen

Universität-GH Paderborn, FB 3: Sprach- und Literaturwissenschaften, Schwerpunkt: Literaturwissenschaftliche und historische Frauenforschung

E-Mail: vahsen@hrz.uni-paderborn.de

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